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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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gewesen.
      «Und was soll ich da machen?», hatte sie gefragt, als könnte er darauf eine Antwort wissen, als könnte er noch argumentieren.
      Er wollte nicht, dass sie ihn so sah, das verstand sie, doch alles andere war noch schlimmer. Sie waren schon ganz dicht vor dem Nichts gewesen - zumindest hatte sie das geglaubt, denn hinterher war es schwerer gewesen, als sie sich hätte vorstellen können. Es gab Tage, an denen sie sich fertig anzog, um ins Krankenhaus zu fahren, aber da war niemand. Vermutlich war es so, wenn man verrückt wurde. Alles, dessen sie sich völlig sicher war, alles, das für sie eine große Bedeutung hatte, existierte nicht mehr. Stundenlang vollführte sie sinnlose Rituale, führte Selbstgespräche oder redete mit Leuten, die für andere unsichtbar waren, mit Gegenständen, hielt dann plötzlich inne und geißelte sich dafür, wütend auf ihre eigenen Gefühle.
      Und dann hagelte es Telefonanrufe von Leuten, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, von Henrys alten Arbeitskollegen und den Eltern von Kenneths High School-Freunden, sogar von einem seiner Grundschullehrer. Wie schnell sie dieses behutsamen Mitgefühls überdrüssig wurde. Sie wusste die tröstenden Worte zu schätzen, doch wenn sie auflegte, fühlte sie sich wie ausgewrungen und begann schon bald, den Anrufbeantworter anzulassen, zu hören, wer anrief, und sich über das laufende Band zu beugen, in der Hoffnung, dass es Louise sein könnte, um vorzuschlagen, sich die neue Hopper-Ausstellung im Scaife Museum anzusehen oder einfach irgendwo einen Kaffee trinken zu gehen. «Emily», sagte sie dann, «Emily, bist du da?», und manchmal hob Emily ab, manchmal nicht. Sie hatte gelernt, den Ton leise zu stellen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, Louises wohlklingende Stimme ersetzt durch das Spulen der Kassette, dann ein schwertkampf-mäßiges Geklicke, eine neue Zahl, die blinkte wie ein Spielstand, der für sie immer schlechter wurde. Ihr Rekord stand bei siebzehn. Wussten sie denn nicht Bescheid? Sie wollte bloß allein sein.
      Sie waren fast an dem Häuschen angelangt. Margarets Bus stand drei Wagen hinter ihnen. Kenneth blickte zwanghaft in den Spiegel, aus Angst, sie könnten Margaret verlieren, sobald sie durchgewunken wurden.
      Er ließ die Scheibe heruntergleiten, und der Wind wehte Emily kühl um die Nasenspitze. Der Abgasgestank war Ekel erregend. Die Motoren der Lastwagen liefen im Leerlauf, ihre Druckluftbremsen lösten sich ächzend. Auf der anderen Seite brausten die Autos zurück in die Vereinigten Staaten.
      «Von wo kommen Sie heute?», fragte der Uniformierte mit dem Klemmbrett. Er lächelte, beugte sich aber vor, um den Rücksitz zu kontrollieren.
      «Chautauqua, New York», sagte Kenneth, als würden sie dort leben.
      «Wie lange wollen Sie bleiben ?»
      «Bloß heute.»
      Die Mädchen neben ihr posierten für die Überwachungskameras, die von allen Seiten auf sie gerichtet waren, und Emily fragte sich, ob das Geplänkel des Uniformierten bloß ein Vorwand war, um sie festzuhalten, während irgendwo jemand anders den Wagen überprüfte. Selbst damals, als sie und Henry hier die Grenze überquerten, hatte das Ganze etwas von einer Intrige gehabt, als könnten sie gegen Gesetze verstoßen, die ihnen unbekannt waren. Im Nu waren sie Ausländer, außerhalb des Einflussbereichs und des Schutzes ihrer Regierung. Inzwischen fand sie das albern - exotisches Kanada - doch das Mädchen aus Kersey hatte zum ersten Mal das Land verlassen, der nächste Schritt war logischerweise Europa gewesen, und sie waren hingeflogen, nach Paris, keine zehn Jahre später, hatten in diesem engen Hotel bei Saint-Sulpice gewohnt, wo man in die runde Duschkabine hinaufsteigen musste und der telefonzellengroße Aufzug bedrohlich quietschte und ruckelte. Am linken Ufer hatte es überall Crepes gegeben, und sie hatte sich ständig den Puderzucker vom Kleid gestreift. Vom vielen Laufen hatten ihnen die Füße wehgetan, doch jede Nacht hatten sie miteinander geschlafen, als wäre es zu Ehren der Stadt, hatten sich morgens nackt zusammen vor das bullaugenhafte Fenster gekauert und über die dampfenden Dächer geblickt, während die Angestellten in die prunkvollen Bürogebäude strömten. Sie hatten die Reise genossen, da sie nicht wussten, wann sie wieder herkommen würden.
      Nie mehr, wie sich herausstellte, so wie sie auch weder auf die Bermudas noch zum Grand Canyon oder zur Westminster Abbey

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