Abschied von Chautauqua
Durch das Brummen des Motors hörte sie den Fluss und in der Ferne das Rauschen der Wasserfälle, dröhnend wie ein Hochofen. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und dem stärker werdenden Rauschen gelauscht, doch das Polster wurde nass, sie drückte auf den Knopf und schloss das Fenster wieder.
Für die letzten anderthalb Kilometer brauchten sie vierzig Minuten, dann wurden sie plötzlich vor den Wasserfällen angehalten und auf einen riesigen neuen Parkplatz mit farbig gekennzeichneten Reihen gewunken.
«Wir stehen auf Hg blau», schärfte Kenneth allen ein.
Sie hatten bloß zwei Regenschirme dabei, deshalb musste er ohne auskommen, dem Wetter in seiner Red Sox-Kappe und seiner gelben Regenjacke trotzen. Die Jungs sprangen aus Margarets Bus direkt vor ein anderes Auto. Den ganzen Weg über den Parkplatz liefen sie vor und tollten herum wie Hunde. Emily wartete darauf, dass ihre Mütter sie zügelten, doch als Sam auf dem Asphalt ausrutschte, rief sie die beiden selbst zurück.
«Bitte», sagte sie, «heute können wir keinen Unfall gebrauchen.»
Kurz darauf gebot Margaret Justin Einhalt und fasste ihn am Handgelenk, während Lisa wie eine Wärterin hinter Sam herging.
Sie blieben an einem Fußgängerüberweg stehen, die Wasserfälle noch immer verborgen, so nah, dass Emily den Fluss im Dunst riechen konnte, den quellenartigen, mineralischen Duft nassen Gesteins. Das Dröhnen kam jetzt von allen Seiten, die Luft war voller Feuchtigkeit. Beim ersten Mal war die Nässe eine willkommene Abwechslung zu der Hitze gewesen, Henry hatte über sein ruiniertes Hemd gelacht, und später, in den Höhlen, hatten sie über sich gelacht, weil ihnen ganz kalt war. Sie hätten über alles gelacht, so amüsant war der Tag, die ganze Welt gehörte ihnen, und sie waren sich selbst genug.
Die Ampel wurde grün, und sie überquerten mit den anderen die Straße. Die Mädchen fanden irgendetwas lustig; Margaret und Lisa hatten die Jungs endlich unter Kontrolle. Als sie den anderen Touristen über einen breiten Platz folgten, versuchte Emily, Kenneth zu sich unter den Regenschirm zu ziehen.
«Es ist gar nicht so voll», sagte er zu ihrer Ermunterung.
«Nein, es ist nicht so schlimm. Danke», fügte sie hinzu, denn er wusste hoffentlich, dass sie allein nicht hergekommen wäre.
«Schon gut», erwiderte er, und sie glaubte, dass er verstanden hatte. Im Grunde genommen war er wie sein Vater.
Vor ihnen stieg der Platz an. Er war wie eine Bühne gebaut, erhöht und terrassenförmig angelegt, damit man die Wasserfälle von überall sehen konnte. Das war neu, wie alles andere, es war ihr fremd. Sie wünschte sich, sie könnte sich an die Straße erinnern, die hier entlanggeführt hatte, an die Restaurants und Parkplätze, die Souvenirstände mit ihren Ansichtskartenständern - denn die musste es damals schon gegeben haben.
Die Leute schwärmten aus, umgingen die Pfützen, und plötzlich waren auf der anderen Seite der Schlucht die Wasserfälle zu sehen, der dichte weiße Vorhang, vertraut wie ein aus Stein gemeißeltes Denkmal oder die Vorderseite einer Münze, rechts der schönere, eher auf menschliche Größe zugeschnittene Schleier der Bridal Veil Falls.
Ja, da war er wieder, dieser erste frische Blick, der seinem Versprechen gerecht wurde. Der Blick war wie damals, als Henry sie am Geländer an sich gezogen und geküsst hatte, und die Leute hatten geklatscht, weil sie jung und verliebt waren, doch jetzt erinnerte sie sich nicht an jenen Moment, sondern an den vorhergehenden Tag in der Kirche, wo das leise, fast beerdigungshafte Orgelgeklimper und das Husten der alten Leute über die Bankreihen gehallt war, während sie allein in der Sakristei bei den Chorhemden wartete, als befände sie sich hinter der Bühne in der Garderobe irgendwelcher Revuetänzerinnen, zu spät für den großen Auftritt. Den ganzen Morgen hatte man sie gefragt, ob sie nervös sei, und sie hatte gelogen und nein gesagt. Sie war nicht abergläubisch, doch seit sie das Kleid angelegt hatte, brachte es Unglück, den Bräutigam zu sehen. Vor der Tür stand ihr Vater einsam Wache, als wäre sie ein verurteilter Häftling. Ihre Taille war so fest eingeschnürt, dass sie nicht richtig atmen konnte, ihr Busen hochgeschoben, damit er imposanter aussah. Henry hatte dreimal um ihre Hand angehalten, bevor sie ja sagte, was sie bei der Generalprobe oft genug zu hören bekommen hatte, doch jetzt wusste sie nicht
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