Abschied von Chautauqua
zurückkehren würden. Wall Drug. Valley Forge. Das Lincoln Memorial. Die Liste schien endlos zu sein, obwohl sie in Wirklichkeit nur selten verreist waren, zwei Stubenhocker, die sich nicht viel Luxus leisteten. Henry sparte sich seine zwei Wochen unausweichlich für Chautauqua auf, kam am Wochenende vor dem Memorial Day her, um alles zu reparieren, und schloss das Haus nach dem Labor Day wieder ab. Ich kann Mrs. Klinginsmith Geld geben, damit sich jemand darum kümmert, dachte sie.
Mit einem an einer Kette befestigten Kugelschreiber ließ der Uniformierte Kenneth das Formular auf dem Klemmbrett unterschreiben und winkte sie durch, bereits auf den nächsten Wagen und seine Insassen konzentriert.
«Nichts», sagte Ella, als sie unter dem Schild hindurchfuhren.
«Ha ha», machte Sarah.
«Jetzt geht's», dirigierte Lisa, die nach hinten schaute, und Kenneth schwenkte nach rechts und versperrte einem FedEx-Lieferwagen den Weg, um auf die splittbedeckte Standspur zu fahren, wo der Asphalt weiß schraffiert war. Autos brausten vorbei, riesige Sattelschlepper zogen Dunstschleier hinter sich her.
«Ist das legal?», fragte Emily und sah nach, ob hinter ihnen ein Streifenwagen war.
«Zwangsläufig», erwiderte Kenneth in einem Ton, der ihr nicht gefiel.
«Meinst du, das ist ungefährlich?»
«Ich hab das Warnblinklicht an.»
«Wir bleiben doch nur ganz kurz stehen», sagte Lisa abschätzig, und Emily biss sich auf die Lippe. Um sich zu beschäftigen, drehte sie im Schoß mit dem Daumen an ihrem Ring.
«Da sind sie», sagte Lisa, und Kenneth schaltete den Blinker ein und wartete auf eine Lücke. Die Mädchen duckten sich, damit er etwas sehen konnte.
Als sie wieder fuhren, sagte keiner ein Wort. Der Highway bog in Richtung St. Catharines und Toronto ab und mit ihm die Hälfte des Verkehrs. Lisa dirigierte sie auf eine Schnellstraße mit Gänsen auf dem Mittelstreifen. Die Straße folgte dem Fluss - ruhig wie ein Teich, nur der Regen bildete zwischen den Weiden Wasserringe. Sie schlängelten sich durch ein parkähnliches Viertel. und Emily wunderte sich über die Bungalows und Fünfziger-Jahre-Häuser mit Zwischenstockwerken, davon überzeugt, sie noch nie gesehen zu haben. Sie mussten auf einem anderen Weg in die Stadt gekommen sein. Bestimmt hatte sich die Straßenführung verändert.
Achtundvierzig Jahre, dachte sie und betrachtete den Fluss. Hatten sie ihn nicht irgendwann wegen der Überschwemmungen umgeleitet, einen neuen Kanal gegraben? Sie hatte auf PBS einen Dokumentarfilm gesehen. Henry würde es noch wissen. Sie wollte die Frage an alle im Wagen richten, wusste aber, dass es nichts bringen würde - bloß noch mehr nutzlose Fakten von der alten Schreckschraube. Manchmal war es einfach besser, den Mund zu halten.
Die Straße und der Fluss schlängelten sich dahin, neben ihnen glitt eine Insel vorbei, am Ufer eine Schar aufgeplusterter Möwen, dann öffnete sich der Blick und zeigte ihnen den Zusammenfluss zweier Flüsse, die ihre Kräfte vereinigten, und dahinter den Himmel. Emily erkannte den plötzlichen Übergang von spiegelglattem Wasser zu wirbelnden Stromschnellen wieder, aber erinnerte sie sich von ihren Flitterwochen oder von später daran, als sie mit den Kindern da waren? Vielleicht hatte sie es auch von der anderen Seite gesehen. Der Eindruck von Gefahr war genauso, ein zeitloser Reflex, sich von dem Fluss fern zu halten. Weiter unten schaukelte eine Reihe von neuen, leuchtend orangen Bojen im Wasser, die Bootsfahrer mittels aufgemalter Totenköpfe vor den Wasserfällen warnten.
«Wir müssen ganz nah sein.» Sie machte die Mädchen darauf aufmerksam.
«Das ist unheimlich», sagte Sarah. «Als ob das Wasser wüsste, dass es gleich in die Tiefe stürzt.»
«Warum ist das so?», fragte Ella. «Dad?»
«Keine Ahnung», erwiderte Kenneth und gab dann eine Theorie zum Besten, die nicht einmal er überzeugend fand.
«Dein Vater wüsste die Antwort», sagte Emily.
«Mit Sicherheit», pflichtete Kenneth ihr bei.
«Das da muss Goat Island sein», warf Lisa ein.
Dahinter erhob sich ein weißer Dunstschleier wie bei einem abgeklungenen Tornado. Emily dachte, dass sie eigentlich die Wasserfälle hören müssten. Vor ihnen staute sich der Verkehr, Kenneth bremste und suchte im Rückspiegel nach Margaret. Emily tippte auf den Knopf, und die Fensterscheibe glitt herunter.
Der Wind trieb ihr den Regen ins Gesicht.
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