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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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und lange auf, sprang aber nicht an. Ken nahm die Sonnenbrille ab, drängte sich nochmal durch und drückte die Gummipumpe, um den Motor mit Benzin zu versorgen. Er war verschwitzt und frustriert, und Lise wusste, dass sie ihn nicht stören durfte.
      «Passt auf den Steg auf», rief Meg.
      «Nimm dein Paddel und stoß dich ab», sagte er zu Lise - als wäre es nicht jedes Mal dasselbe, wenn sie losfahren wollten. Sie gehorchte, und der Bug drehte sich.
      Er versuchte es nochmal; diesmal sprang der Motor an - die Jungs jubelten, Ella wirkte besorgt -, und Ken schloss behutsam das Drosselventil, bis das ohrenbetäubende Dröhnen gleichmäßig war. Ohne sich umzudrehen, fuhr er mitten auf den See hinaus. Mit dem Wind in ihrem Haar fühlte sich Lise befreit, als würden sie wirklich abreisen. Sie winkte zusammen mit den Kindern und ließ Emily und die anderen zurück, ihre Gestalten immer kleiner werdend, während das Kielwasser anschwoll und sich krümmte und schlängelte, schließlich alle zu Punkten geschrumpft, der Steg einer unter vielen und dann nur noch ein ferner grüner, ununterscheidbarer Uferstreifen.
      «Tut mir Leid», rief er, hinter seiner Sonnenbrille versteckt.
      «Was denn?»
      «Dass ich so ein Trottel war.»
      «Ist schon okay. So bist du nun mal», sagte sie, ein alter Witz, abgedroschen, aber immer noch voll versteckter Anspielungen, in diesem Falle ein Friedensangebot, befristet und freudig angenommen.
      Die Windschutzscheibe war ganz zerkratzt, richtig trüb. Lise richtete sich auf, um Ken durch den Verkehr zu lotsen, drehte sich dann um und sah nach den Kindern. Sie umfuhren die Absperrungsbojen für den Jachthafen am Prendergast Point, durchquerten das Kielwasser eines großen Kabinenkreuzers mit zwei jungen Frauen in Bikinis an Bord und ordneten sich in den Verkehr ein. Es war, als würde man auf den Highway auffahren. Der Bootsrumpf klatschte auf die Wellen, und Sam schrie: «Aua! Aua!», um die anderen zum Lachen zu bringen. Lise hielt sich an dem Griff fest, der am Armaturenbrett angebracht war, ließ die Geschwindigkeit und den Lärm über sich strömen und sie rein waschen. Es musste schon nach drei sein, doch die Sonne stand immer noch hoch am Himmel. Am anderen Ufer traten die Bäume zurück, und sie sah, wie ein Lastwagen einen langen Berg hinauffuhr. Es war Donnerstag, irgendwo arbeiteten Leute; zum ersten Mal seit ihrer Ankunft fühlte sie sich wirklich im Urlaub, von jeglicher Verantwortung entbunden.
      Sie bogen um Long Point herum, und Ken nahm das Gas weg. Als sie langsamer wurden, sank das Boot wieder aufs Wasser. Die Luft wurde stickiger, die Feuchtigkeit kehrte zurück, sie hörten Vögel und hinter sich die Motoren anderer Boote. Im Wald, hinter einem mit Schildern versehenen Maschendrahtzaun, glitt das ehemalige Herrenhaus vorbei, die Stuckimitation einer französischen Villa. Es gehörte zum Staatspark, doch der Staat hatte nicht genug Geld, um es zu restaurieren, deshalb war es verfallen, die Fenster mit Sperrholz vernagelt, und jedes Jahr, wenn sie in der Bucht schwammen, wünschte sich Lise, sie könnten es kaufen, und die ganze Familie könnte auf der breiten Steinterrasse ihre Mahlzeiten einnehmen. Vor vielen Jahren, noch vor den Kindern, war sie mit Ken mal drinnen gewesen. Im Haus hatte es nach Schimmel und Lagerfeuern gerochen. Die kastanienbraune Tapete aus den zwanziger Jahren hatte sich bahnenweise abgelöst; mitten auf dem Kaminsims hatte wie zur Dekoration ein Turnschuh gestanden. Lise hatte es zu schauerlich gefunden, um dort mit ihm zu schlafen, und Ken war enttäuscht gewesen, weil er seine Phantasie nicht ausleben konnte.
      Jetzt sehnte sie sich so nach Romantik. Das hätte ausreichen müssen - ein Motorboot und eine verfallene Villa, ein launischer Hungerleider und Künstler von einem Ehemann. Mary Stewart konnte aus weniger Vorgaben einen Thriller erschaffen, mit der richtigen Heldin. In ihrer Jugend hatte sich Lise gewünscht, wie diese jungen, unverbrauchten Frauen auf den Einbänden zu sein, Gouvernanten oder Studentinnen im Ausland, die stets als gewandt und liebreizend geschildert wurden. Sie hatte wirklich geglaubt, sie würde eine von ihnen werden, mutig und windzerzaust. Was für ein dummes Ding sie gewesen war.
      Ken schaltete den Motor aus, kletterte über die Windschutzscheibe, und sie reichte ihm den Keramikanker, der aussah wie ein riesiger Aschenbecher. Er band den Anker von der Bugklampe los, ließ ihn an der

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