Abschied von Chautauqua
Spätentwicklerin gewesen und kannte diese Ungeduld - die Angst, dass die Sache nicht ins Rollen kam oder auf halbem Weg stehen blieb, ihr Körper ewig unvollendet (inzwischen war sie im Großen und Ganzen zufrieden, außer mit ihrer Nase, ihren Beinen und ihrer schmalen Oberlippe). Sie konnte sehen, dass Sarah erst Jungs und dann Männer anziehen würde, ob sie wollte oder nicht, genauso wie ihre Mutter. Lise wünschte, sie hätte Ella bessere oder mehr Gene mitgegeben, da sie die Augen - bei Lise das Allerschönste - und die Gesichtsform eindeutig von Ken geerbt hatte. Ella würde es überleben, doch wie viel einfacher würden die kommenden Jahre sein, wenn sie wie Sarah aussähe.
Lise wünschte, sie könnte sich einfach ihren Sinneseindrücken hingeben, ihre Gedanken von der Hitze wegspülen lassen. Zur Ruhe, zur Reglosigkeit verdammt wie jetzt, fiel es ihr schwer, nicht an die Zukunft zu denken - sich keine Sorgen zu machen. Zu Hause hatte sie keine Zeit zu schwelgen, ihre Freuden und Niederlagen waren nur flüchtig, gemildert durch ihren Zeitplan. Hier beschäftigte sie sich bloß mit ihren Problemen - ganz normal, aber lähmend, da keine Besserung in Sicht war, geschweige denn eine wirkliche Lösung. Auf der Rückfahrt würden sie im Wagen miteinander reden, eine Art erzwungene Unterhaltung, doch im Beisein der Kinder konnten sie über nichts Ernstes sprechen, und wenn sie in die Einfahrt bogen, würden sie zu müde sein, so ausgelaugt, dass sie sich glücklich schätzen musste, wenn sie noch mit der Wäsche anfangen könnte.
Zwei Wassermotorräder donnerten spritzend vorbei und rissen Lise aus ihren Gedanken. Sie hatte noch nie auf so einem Ding gesessen, genauso wenig, wie sie je Motorrad gefahren war - Meg hatte mal eins gehabt -, und Lise verspürte den heimlichen Drang, es mal auszuprobieren, obwohl sie weder den Lärm ertragen konnte, noch dass die Leute auf dem Meer ganz nah an den Strand kamen, um über die Brecher zu springen. Das sah aus wie ein geistloses Vergnügen, einfach herumrasen. Es gab so viel, das sie gern ausprobiert hätte, wozu sie aber nie gekommen war: Fallschirmspringen, Bungeespringen, Snowboarden, Windsurfen. Sie musste glauben, dass die Umstände sie daran gehindert hatten, nicht ihre Ängstlichkeit. Im Schwimmbad war sie in ihrer Klasse die Erste gewesen, die auf den Sprungturm stieg, und einmal hatten sie und Tammy Artman sich sonntags in die Schule geschlichen und waren wie Detektive durch die dunklen Flure gestreift, jede Ecke ein Nervenkitzel.
«Wann fahren wir denn?», fragte Sam und richtete sich halb auf.
«Wenn dein Vater zurückkommt.»
«Und wie lange dauert das?»
«Nicht mehr lange.»
«Ich hab Durst.»
«Dann hol dir was zu trinken.»
«Kann ich ein Ginger Ale haben?»
Sie zögerte, bevor sie es erlaubte, und er musste bitte sagen.
«Kann ich bitte auch eins haben?», fragte Justin.
«Ja», erwiderte sie und musste dann «Ab marsch!» brüllen, um zu verhindern, dass sie übereinander herfielen. Die Mädchen rührten sich kaum.
Keine von ihnen hatte eine Uhr. Lises Blick folgte einem großen Segelboot, das sich geduldig dem Glockenturm näherte und dann daran vorbeifuhr. Ein Wasserflugzeug donnerte übers gegenüberliegende Ufer und winkte den Leuten am Strand von Midway mit den Tragflächen zu, ein Manöver, das Lise bloß aus dem Fernsehen kannte und für gefährlich hielt.
Die Glocke läutete einmal. Halb drei? Viertel vor drei?
«Das ist lächerlich», sagte sie laut und blickte über die Schulter. Nichts.
Die Jungs kamen mit ihren Dosen und einer Tüte Doritos zurück, setzten sich im Schneidersitz auf ihre Handtücher und aßen, Rufus drängte sich zwischen sie und verschlang alles, was runterfiel. Und dann hielt ihm Justin, bevor Lise ihn daran hindern konnte, einen ganzen Chip vor die Nase und warf ihn wie eine Frisbeescheibe aufs Wasser.
Mit zwei Sätzen war Rufus vom Steg gesprungen und flog durch die Luft. Er klatschte aufs Wasser, der Chip wurde durch den Aufprall weggespült, sodass Rufus hinterherpaddeln musste, und die Jungs lachten.
«Nein», schimpfte Lise, die sich schon aufgerichtet hatte. «Das darf er nicht. Er ist schon zu alt.»
«Ja», sagte Sarah zu Justin. «Hörst du denn nie zu?»
Lise sah, dass er zusammenzuckte, als hätte ihn jemand geschlagen.
«Schon gut, wir müssen ihn jetzt bloß rausholen.»
Die Jungs gingen pfeifend über
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