Abschied von Chautauqua
entlangzog wie ein Flüchtlingsstrom, aber Emily redete, als wären sie allein. «Ich hab mir das achtunddreißig Jahre lang angesehen, und ich bin es leid. Er könnte wenigstens ehrlich zu mir sein.»
Die Frau vor ihnen blieb plötzlich stehen, und Arlene wäre fast mit ihr zusammengeprallt. Sie hatten den Fußgängerüberweg am Haupteingang erreicht, wo sie mit den übrigen alten Frauen warteten, und das Gespräch gärte in ihr. Sie würde sich nicht erdreisten, Emily zu ihren Kindern Ratschläge zu erteilen, denn da sie selbst kinderlos war, kannte sie sich auf diesem Gebiet eigentlich nicht aus, doch Margaret und Kenneth waren in gewisser Hinsicht auch ihre Kinder, für die sie sich unwillkürlich mit dem Gerechtigkeitssinn einer Lehrerin einsetzen würde. Das würde Henry von ihr erwarten.
Hinter den Drehkreuzen verteilten Mädchen in zueinander passenden Röcken das Tagesprogramm. Sie und Emily ließen sich beide eins geben und steckten es in ihre Handtaschen. Es genügte zu wissen, dass die Kammerkonzerte und Vorträge angeboten wurden. Wenn sie mehr Zeit hätten, würden sie sich vielleicht etwas anhören, doch heute waren sie bloß wie jedes Jahr gekommen, um sich wieder mit dem Institut vertraut zu machen, um auf den schattigen Wegen zwischen den märchenhaften Sommerhäusern und den geometrischen Blumenbeeten hindurchzuschlendern und das Gefühl zu genießen, dass hier die Zeit stillstand oder zumindest gemächlicher verstrich, dass dieselben Familien aus Pittsburgh oder Buffalo hergekommen waren, um den ewigen Tugenden der Schönheit in der Kunst und der Persönlichkeitsentwicklung durch sittliche Bildung Tribut zu zollen. Arlene dachte, dass sie herkamen, wie ihre Urgroßmutter vor hundert Jahren hergekommen und dieselben unbefahrenen Straßen mit ihrer Großmutter entlanggegangen war, um ihren Glauben an Wissen, Gesellschaft und Gott zu erneuern. Sie kamen wie ihre eigene Familie vor dem Krieg, um auf der Veranda des Athenaeum Tee zu trinken und zu beobachten, wie die Segelboote von einer Boje zur anderen glitten.
«Was meinst du, was passiert ist?», fragte Emily.
Arlene hatte den Gesprächsfaden verloren und musste sich entschuldigen.
«An der Tankstelle.»
«Keine Ahnung», sagte Arlene. «Ein Raubüberfall.»
«Ich glaube, die Polizei meint es ernst, wenn sie Absperrband aufhängt. Es würde mich nicht überraschen, wenn jemand umgebracht worden wäre.»
«Er wird uns bestimmt alles erzählen.»
«Ich glaube kaum, dass die Polizei ihm irgendwas sagt. Man wird ihn wahrscheinlich bitten, mit niemandem über die Sache zu sprechen.»
«Wie als Geschworener», sagte Arlene halb spöttisch.
Emilys juristische Sachkenntnis stammte aus den Krimis, die sie las. Ihre einzige wirkliche Erfahrung mit einem Gericht war eine Woche als Geschworene im Fall eines ehemaligen Häftlings aus Hazelwood wegen Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen und unerlaubten Waffenbesitzes, woraufhin sie das Ganze mit jedem durchgegangen war, der ihr zuhörte, und die Moral von der Geschichte war gewesen, wie furchtbar schlecht die Anwälte vorbereitet gewesen seien.
Emily überging die Bemerkung. «Ich frage mich, ob er nochmal herkommen und in den Zeugenstand muss, wenn es eine Verhandlung gibt, oder ob sie einfach seine Aussage aufnehmen können.»
Der Ziegelweg führte sie direkt durch eine Ansammlung von verspielten zweistöckigen Sommerhäusern, auf deren Veranden jeweils zwei Fahnen flatterten - eine amerikanische und eine irische, eine amerikanische und eine französische, als wären es winzige Botschaftsgebäude. Die Geländer waren zu schön für Blumenkästen, es sah so aus, als hätte sich der ganze Block darauf geeinigt, Körbe mit roten Geranien aufzuhängen. Die Menge war kleiner geworden und schlenderte ziellos umher. Ein Mann in einem Hawaiihemd nahm für die Nachwelt alles auf Video auf.
«Stell dir mal die Instandhaltungskosten für diese Häuser vor», sagte Emily. «Die müssen bestimmt alle zwei Jahre gestrichen werden.»
«Was meinst du, wie viel so eins kostet?», fragte Arlene.
«Keine Ahnung», erwiderte Emily.
«Es war ein herrliches Jahr für Rosen.»
«Bei der Hitze. Ich bezweifle stark, dass eins von denen hier zum Verkauf steht. Sie wollen die Eigentumswohnungen loswerden. Ich finde, sie haben davon zu viele gebaut. Die Leute wollen in Chautauqua keine Eigentumswohnungen. Sie hätten mehr Sommerhäuser bauen
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