Abschied von Chautauqua
das?»
«Ich meine, kommt er mal vorbei und ist einfach da?»
«Nein, das ist alles auf dem Kalender eingetragen. Meine Mom ist immer noch wütend auf ihn.»
«Ja, klar», sagte Ella.
«Sie ist echt komisch geworden, ich weiß nicht. Noch komischer.»
«Wie denn?»
Außer ihnen und Rufus war niemand im Haus, aber Sarah blickte zur Treppe, bevor sie sich rüberbeugte, und flüsterte: «Sie hat uns schon immer angeschrien, stimmt's? Wenn sie das jetzt macht, fängt sie sofort an zu heulen, und dann hält sie sich an dir fest, während sie heult.» Sie legte sich aufs Kissen zurück. «Ich meine, das ist doch komisch.»
«Ja», stimmte Ella ihr zu. Sie bemühte sich, lässig zu sein, aber die Geheimnisse eines anderen Menschen zu hören war für sie etwas Neues. Die paar Freundinnen, die sie in der Schule hatte, waren wie sie. Nicht wie Sarah, die klug war und gut aussah. An ihrer Schule gab sich jemand wie Sarah nicht mit jemandem wie ihr ab. Sarah war eins der Mädchen, von dem die Jungs im Bus direkt vor deiner Nase sprachen, als wärst du unsichtbar. «Sarah Carlisle», würden sie sagen und versuchen, sich gegenseitig zu übertreffen, als wäre es ein Spiel, und dann würden die anderen stöhnen. Sie mussten sie nicht mal kennen, ihr Name würde berühmt sein. Kein Junge würde je «Ella Maxwell» sagen, höchstens um die anderen zum Lachen zu bringen.
«Ich weiß nicht», sagte Sarah. «Sie ist wohl bloß traurig, aber ... Man kann doch nicht die ganze Zeit traurig sein. Sie hat ihren Job verloren. Sie hat den Wecker ausgeschaltet, und ich musste Justin das Frühstück machen. Und wenn sie arbeitete, ging sie, sofort wenn sie nach Hause kam, ins Bett.» Sie rollte sich auf die Seite, sodass die beiden sich ansahen. «Einmal gab's eine ganze Woche lang Essen vom Lieferservice, weil sie keine Lust hatte zu kochen.«
Ella hatte von ihrer Mutter nichts darüber gehört und glaubte jedes Wort. Tante Margaret lief im Bademantel im Haus herum. Tante Margaret vergaß, Lebensmittel einzukaufen. Sarah erzählte es ganz offen, und Ella fragte sich, ob sie so tapfer sein würde, wenn ihre Mutter durchdrehte (aber sie würde sich nicht wie Sarah um alles kümmern müssen, sie hatte ja ihren Dad). Ella wünschte, auch sie hätte ein Geheimnis, das sie Sarah anvertrauen könnte, aber ihr Leben war langweilig, sie erlebte nichts. Bis auf das hier, dachte sie, diese plötzliche Nähe zwischen ihnen und was für Gefühle das in ihr auslöste, aber das konnte sie ihr nicht sagen.
Das musste sie auch nicht. Sarah streckte die Hände aus und umschlang Ella, eine flüchtige Umarmung.
«Danke. Ich will nicht diesen ganzen Mist bei dir abladen.»
«Ist schon okay», erwiderte Ella, überrascht von Sarahs Spannkraft, dem Duft ihres Haars.
«Sie kommen bald wieder», sagte Sarah. «Wir sollten aufstehen.»
Ella hatte keine Lust, stimmte ihr aber zu. Sie beobachtete, wie Sarah im Nachthemd über den Teppich ging und dann die Badezimmertür schloss. Selbst ihre Füße waren hübsch, ihre Waden kräftig wie bei einer Ballerina. Bei jeder anderen wäre sie neidisch gewesen, aber bei Sarah gab es dafür keinen Grund. Ella fand, dass sie noch nie jemandem begegnet war, dessen Aussehen so perfekt zu seiner inneren Schönheit passte. Die Dusche ging an, und Ella lag da, fand ihr Buch nicht mehr interessant und lauschte dem Platschen des Wassers, Sarahs Geheimnisse sicher und wohlbehalten in ihrem Innern.
* 7
Sonntags musste man beim Institut keinen Eintritt zahlen, und es war ihre einzige Gelegenheit, deshalb ließen Arlene und Emily die Kinder nach dem Mittagessen in Margarets Obhut und stiegen in den Wagen. Er hatte mit geschlossenen Fenstern in der Sonne gestanden. Die Luft im Innern war stickig, und es roch leicht nach Hund, doch Arlene sagte nichts. Nach dem Lärm der Jungs war sie einfach froh, ein bisschen Ruhe zu haben. Fünfunddreißig Jahre lang hatte sie Kindern zugehört, und obwohl sie jedes der lächelnden Gesichter und jeden wissbegierigen Geist im Gedächtnis behalten würde (und an Wintertagen manchmal ein dickes Album mit Klassenfotos durchblätterte, das zeigte, wie die hoch gewachsene junge Frau langsam alt und gebeugt wurde, während die Kinder gleich blieben), war die Musik schon ganz früh aus ihren Stimmen verschwunden.
Das war der Unterschied zwischen dem See und der Stadt: Sobald man losfuhr, war es zu kühl, um die Fenster offen zu
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