Abschied von Chautauqua
nicht mehr lange. «Mom könnte dir vielleicht aushelfen.»
«Ich will sie nicht fragen. Ich will's einfach nicht.»
Seit seine Eltern missbilligt hatten, dass sie das College und Pittsburgh verließ, war das stets eine Frage des Stolzes gewesen. Jeff hatten ihre Eltern anfangs auch nicht leiden können, und Meg war davon überzeugt, dass ihre Mutter sie zwar liebte, aber nicht besonders gut leiden konnte.
«Ich frag nur ungern», sagte sie, «aber könntet ihr beide, du und Lise, mir vielleicht helfen? Ich brauch nur so viel, dass ich mich über Wasser halten kann.»
«Ich wünschte, ich könnte es.» Er wollte nicht auf Einzelheiten eingehen. Das musste er auch nicht; sie wusste, dass er wieder auf Stundenlohn arbeitete. Seit er bei Merck aufgehört hatte, hatten sie nichts mehr sparen können, damit versuchte er sie zu trösten.
«Scheiße», sagte sie und warf den Zigarettenstummel in hohem Bogen in den Garten der Lerners, wo er wie das glanzlose Auge eines Tieres glühte. «Ich ertrage es nicht, sie um Geld zu bitten.»
«Wann hast du Momje um Geld gebeten?»
«Was glaubst du wohl, wie wir uns leisten konnten, das Haus zu kaufen? Ich hab Dad gefragt. Jeff hat bei Philco nicht so viel verdient.»
Von allem, was Meg ihm anvertraut hatte, nahm Ken nur dieses Eingeständnis wahr, und das Bild von seiner Schwester und seine Selbsteinschätzung änderten sich völlig. Den größten Teil seines Lebens hatte er sich für intelligent gehalten, und doch bewies ab und zu eine offenkundige Fehleinschätzung wie diese, dass er nicht nur über den Lauf der Welt - der ihm verschlossen und immer ein Rätsel bleiben würde -, sondern auch über seine nächsten Angehörigen öfter Mutmaßungen anstellte, als wirklich Bescheid zu wissen. Er hatte sich gewünscht, dass sie edelmütig und kühn war und seine Duldsamkeit ausglich. Er dachte, er dürfe nicht enttäuscht sein zu sehen, dass sie genauso war wie er.
Er entschuldigte sich, und sie dankte ihm. Wenn schon nichts anderes, so hatten ihre Eltern ihnen wenigstens Höflichkeit beigebracht. Sie küsste ihn auf die Wange und führte ihn dann ins Haus. Als er das Wohnzimmer betrat, bedachte ihn Lise mit einem Blick, der ihn merken ließ, dass sie eifersüchtig war. Seine Mutter hatte den Klassiksender aus Jamestown eingestellt, so leise, dass Ken es erst hörte, als er sich setzte und sich eine alte Ausgabe des New Yorker nahm. Die Seiten klebten vor Feuchtigkeit. Den Jungs blieben noch zehn Minuten. Sie kämpften mit ihren Pokemon-Karten. Anscheinend waren sie schon ermahnt worden, nicht so laut zu sein, denn sie flüsterten die Namen ihrer Figuren: «Giflor! Glumanda!» Er hatte keine Ahnung, welche besonderen Kräfte die beiden Figuren besaßen, so wie sein Vater mit den Namen der Superhelden, für die sich Ken als Kind interessiert hatte, nicht richtig vertraut gewesen war. Green Arrow und Green Lantern, der Silver Surfer. Selbstjetzt kamen die ihm erwachsener vor als Pikachu und Schiggy.
«Wie geht's Harry?», fragte er.
«Dem geht's gut», erwiderte Lise, als wäre sie in das Buch vertieft und wollte nicht reden.
Er entdeckte einen Artikel über den Bau der Tacoma Narrows Bridge, doch bei der Musik - satte Streicher und ein lautstarkes Klavier - konnte er sich nicht konzentrieren. Meg hatte sich in den Sessel am Kamin gesetzt, das Gesicht von ihrem Haar beschirmt. Ken war froh, dass sie sich unterhalten hatten, aber auch unzufrieden. Aus irgendeinem Grund hatte er mehr erwartet und fragte sich, ob ihr klar war, wie oft er im letzten Jahr an sie gedacht hatte, allein dort draußen, während alles in die Brüche ging. Er hatte nichts unternommen, bloß jede Woche angerufen, zwanzig Minuten, bestenfalls eine halbe Stunde. Er hatte Ostern hinfahren wollen, doch Lise hatte schon Pläne mit ihren Eltern gemacht. Er erinnerte sich, wie er an Meg gedacht hatte, während die Kinder mit ihren Körben durch den Garten flitzten. Sie hatten ihn an seine eigene Kindheit erinnert, daran, wie Meg ihn vor St. James an der Hand herumgezerrt hatte, damit er seinen Anteil bekam. So was wollte er auch für sie tun.
Nach einem Blick zur Uhr auf dem Kaminsims legte er die Zeitschrift beiseite.
«Okay, Sportsfreunde», sagte er, «Zeit, ins Bett zu gehen.»
Da sie nicht Fernsehen guckten, gab es keine Proteste. Sie schlangen Gummiringe um ihre Karten und gingen nach oben.
«Zähneputzen nicht vergessen», erinnerte Lise
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