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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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die Jungs.
      Oben kicherten die Mädchen über irgendwas. Die Jungs konnten es nicht lassen, sie zu hänseln, doch Ken scheuchte sie weiter wie ein Gefängniswärter. Die Luft war stickig, und er schaltete den Ventilator ein.
      Das Gespräch mit Meg, bei dem vieles ungesagt geblieben war, schwirrte ihm noch im Kopf herum. Es hatte geklungen, als würde Meg aufgeben und sich mit allem abfinden. Diese neueste Wendung ergab einen Sinn, wieder einer ihrer unvollendeten Pläne. Hoffentlich war ihre Mutter behutsam mit ihr umgegangen, das würde er wahrscheinlich nie erfahren, nicht ohne Umschweife.
      Die Jungs hinterließen blaue Zahnpastaschnecken auf dem Waschbecken. Ken hatte erwartet, dass Sam um eine Geschichte betteln würde, aber die beiden waren mit ihren Karten beschäftigt. «In einer Stunde macht ihr das Licht aus», befahl er von der Treppe her, «das gilt für Jungs und Mädchen.» Als Zeichen ihres Gehorsams schenkten sie ihm weder Beachtung, noch jammerten sie. Bevor er am Fuß der Treppe die Tür öffnete, steckte er die zusammengefaltete Decke unter den Arm.
      «Die Jungs liegen im Bett», verkündete er im Wohnzimmer, und Lise dankte ihm. Er hörte Rufus in der Küche saufen, hörte, wie sein Halsband klirrend gegen den Metallnapf schlug. Als er am Kamin vorbeiging, wo seine Mutter saß, verbarg er die Decke mit seinem Körper, und als er in die Küche bog, hielt er sie wieder vor die Brust. Er gab Arlene, die vom offenen Kühlschrank aufblickte, keine Erklärung, sondern fegte bloß an ihr vorbei nach draußen, als wollte er sich ein Bier holen.
      Im Dunkeln war er zufrieden mit seiner geheimen Mission, bis er auf der Steinplatte an der Garagentür ausrutschte. Er fuchtelte mit dem Arm in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten, und stieß mit der Hand gegen den Türrahmen. Er konnte sich gerade noch fangen, ließ aber die Decke ins nasse Gras fallen.
      «Scheiße!», sagte er mit schmerzenden Fingern. Am Knöchel blutete er, ein süßlicher Geschmack.
      Als er die Decke aufhob, bog ein Auto in die Einfahrt, dessen Scheinwerfer ihn an der Garage festnagelten. Das Licht wurde abgeblendet, die Nacht färbte sich grün, dunkelblau, und er sah, dass es die Polizei war. Einen Augenblick befürchtete er, die Polizisten würden mit gezogenen Pistolen aus dem Wagen springen, weil sie ihn für einen Einbrecher hielten. Er winkte, warf die Decke in die Garage, schloss die Tür und ging zum Streifenwagen.
      Zu seiner Überraschung saß nur ein Beamter im Wagen, ein stämmiger Bursche Mitte zwanzig mit dicken Brillengläsern, dessen Unterhemd unter der Uniform hervorschaute. Als Jugendlicher hatte Ken für die Polizei dieselbe Verachtung empfunden wie seine kiffenden Freunde, doch mit zunehmendem Alter hatte sich das gelegt, und jetzt kamen ihm die Polizisten oft hilflos und nicht allzu intelligent vor, besonders die jüngeren, wie der hier. Er gehörte zum Sheriffbüro und nicht zu den Staatspolizisten, mit denen Ken am Nachmittag gesprochen hatte. Er fragte Ken, ob er beim Haus der Lerners irgendjeman-den gesehen habe, bevor der Alarm ausgelöst wurde, ging dann ringsherum und leuchtete mit seiner Taschenlampe in die Fenster.
      Kens Mutter trat auf die Veranda und hielt die Tür fest.
      «Frag mal, ob er etwas über die Tankstelle weiß», forderte sie ihn auf und ging wieder ins Haus.
      «Nichts», berichtete der Hilfssheriff nach seinem Rundgang. «Das ist reine Routinesache, wenn die Alarmanlage losgeht, müssen wir nachsehen. Ich kann mich nicht erinnern, dass die hier schon mal Probleme gemacht hat.»
      Er hatte ein kleines Klemmbrett auf dem Armaturenbrett liegen und holte es hervor, um etwas aufzuschreiben, das Ken auf einer Linie mit der Bezeichnung BESCHWERDEFÜHRER unterschreiben musste.
      «Wissen Sie», sagte Ken und gab das Klemmbrett und den Kugelschreiber zurück, «ob man über die Tankstelle drüben in Mayville irgendwas Neues rausgefunden hat?»
      «Soweit ich weiß, wird sie immer noch vermisst.»
      «Die Kassiererin?»
      «Ich hab irgendwo ein Bild von ihr.» Er beugte sich in den Wagen und holte ein Vermisstenplakat heraus, auf dem die Fotokopie eines Fotos abgebildet war. Das Mädchen hatte helles Haar, leicht vorstehende Zähne und lächelte; das Bild sah aus, als stammte es aus einem Jahrbuch. TRACY ANN CALER, stand untendrunter, zusammen mit ihrem Geburtsdatum und weiteren Personalien. Ken rechnete unwillkürlich nach. Sie war

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