Abschied von Chautauqua
neunzehn.
«Sieht aus, als hätten die Leute, die die Tankstelle überfallen haben, sie mitgenommen.»
«O mein Gott», sagte Ken. «Ich war einer der Leute, die verhört wurden. Als ich reinkam, war es wahrscheinlich gerade erst passiert.»
«Es ist eine große Sache. Das FBI wird eingeschaltet.»
«Nach einem Gewaltverbrechen sah es nicht aus.»
«Das wird gerade überprüft.»
«O mein Gott», wiederholte Ken.
«Ja», sagte der Polizist. «Man meint, an so einem Ort ist es ungefährlich, in einer Kleinstadt wie Mayville. Stimmt aber nicht.»
Er sagte, Ken solle anrufen, wenn die Alarmanlage nochmal losgehe, fuhr dann rückwärts aus der Einfahrt, seine Scheinwerfer glitten über das Haus der Lerners und strahlten die Reflektoren an ihrem Briefkasten an.
Ken wartete und horchte, wie der Wagen immer leiser wurde und der Wind in den Bäumen ihn übertönte. Er saugte an seinem Fingerknöchel, aber es blutete nicht mehr. Der Polizist hatte « die Leute » gesagt. Bestimmt waren mehrere Leute nötig gewesen, um die Sache am helllichten Tag durchzuziehen. Neunzehn, dachte er, und einen Augenblick sah er aufblitzende Zähne und eine Wäscheleine vor sich, die in schmale Handgelenke schnitt. Er versuchte, nicht an Ella oder Sarah zu denken. Der Kofferraum eines Autos, der Keller eines Farmhauses in einer gottverlassenen Gegend. Auf der Herfahrt hatte ihn der Gedanke getröstet, wie viel unbebaute Landschaft es gab, wie unbedeutend letztlich die Städte waren. Jetzt malte er sich aus, wie das Mädchen weit entfernt von der Interstate in den Hügeln versteckt gehalten wurde, in einer Jagdhütte, wo sich die Männer - vielleicht Brüder - nebenan unterhielten. Es fiel ihm schwer, dabei nicht an einen schlechten Film zu denken. Er versuchte sich vorzustellen, was ihre Eltern durchmachten.
Er schüttelte den Kopf und ging zur Veranda, als könnte er den Neuigkeiten entfliehen, sie hier draußen lassen. Seine Mutter wollte bestimmt alles wissen, doch sie würden nie erfahren, wie das Ganze ausging. Er sah bereits vor sich, wie der Vorfall in die Familiengeschichte einging - «das war doch der Sommer, als das Mädchen entführt wurde» -, sah auch die Rolle, die er dabei spielte: Wie er, ohne etwas zu ahnen, in den Laden spaziert war. In all ihren Geschichten war er ahnungslos, immer naiv.
Er glaubte, dass seine Mutter es schließlich herausbekommen würde.
Das Licht im Haus war orange, das lag an den Lampenschirmen, Überbleibseln aus den sechziger Jahren.
«Und?», fragte seine Mutter.
«Falscher Alarm.»
«Das wissen wir. Hat er eine Vermutung geäußert, woran es liegen könnte?»
«Er ist bloß rundrum gegangen. Er hat gesagt, er könnte sich nicht erinnern, dass das Haus schon mal Probleme gemacht hat.»
«Vielleicht haben sie eine neue Alarmanlage, weil sie das Haus verkaufen wollen. Und was ist mit der Tankstelle?»
«Er hat gesagt, das FBI soll eingeschaltet werden.»
«Dann glauben sie, es ist etwas Schlimmes passiert.»
«Die Kassiererin wird noch vermisst, mehr konnte er nicht sagen.»
«Also glauben sie, es ist das Werk von Insidern.»
«Das hat er nicht gesagt.»
«Tja», verkündete seine Mutter dem ganzen Zimmer, als würde das eine Wort eine viel tiefere Bedeutung einschließen. «Es scheint, als hätten wir es mit einem unerklärlichen Rätsel zu tun.»
«Entschuldigt mich», sagte Lise überkorrekt, stand auf und ging ins Bad.
«War die Kassiererin jung oder alt?», fragte Meg.
«Gute Frage», sagte seine Mutter.
«Das hat er nicht gesagt.»
«Er konnte gar nicht aufhören zu erzählen, was?», sagte seine Mutter. «Also, was wissen wir mit absoluter Sicherheit?»
Während sie ihre Theorien vortrug, machte sich Ken Gedanken über Lises Abwesenheit. Sie hatte ihr Buch mitgenommen, las bestimmt bei abgeschlossener Tür auf dem Klo und versteckte sich, obwohl sie ihm immer vorwarf, dass er sie im Stich ließ. Nach so vielen gemeinsamen Jahren waren ihrer beider Strategien leicht zu durchschauen, und sie handelten fast immer gleich. Vermutlich galt das besonders für ihn, und sie war nicht nur aus Liebe, sondern auch aus Gewohnheit so nachsichtig mit ihm. Vielleicht war das irgendwann dasselbe. Er nahm die vertraute Herablassung seiner Mutter hin, während Lise, die in anderen Verhältnissen aufgewachsen war, das nicht konnte. Die Leidenspose seiner Mutter, ihre
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