Abschied von der Küchenpsychologie
geplant und durch Willensprozesse kontrolliert. Nur ein Verhalten, das bewusst gesteuert wird, bezeichnet man als Handlung, unwillkürliche reflektorische oder automatisierte Bewegungen hingegen nicht. Eine komplexe Handlung kann aus Teilhandlungen zusammengesetzt sein; beim Einkaufen beispielsweise wären das: Einkaufszettel schreiben, zum Supermarkt gehen, Waren aussuchen etc. Während einer Handlung können wir jederzeit entscheiden, sie abzubrechen oder sie zu verändern, wenn die Situation es erfordert. Insofern sind Handlungen sehr flexibel. Die darin eingebetteten kleinen Ausführungsroutinen sind dagegen ziemlich starr. Versuchen Sie mal, Ihre Handschrift zu verändern oder Ihren Gang oder Eigenheiten des Sprechens. In vieler Hinsicht ist unser Verhalten also automatisiert, und das muss auch so sein. Denn wir wären vollkommen überlastet, müssten wir jede unserer Aktivitäten sorgfältig durchdenken.
Da bei Ausführungsroutinen die bewusste Steuerung so gering ist, glauben manche Menschen, aus solchen individuellen Eigenarten könne man weitreichende diagnostische Schlüsse über die «Persönlichkeit» eines Menschen ziehen. Beispiele dafür sind die Graphologie oder Anleitungen zur «Menschenkenntnis», nach denen bestimmte Eigenheiten der Gestik oder des Ganges bestimmte Persönlichkeitszüge verraten.
Mit solchen Diagnosen kann man leicht danebenliegen. Von praktischer Bedeutung ist eher die Erkenntnis, dass die
Änderung
von Verhalten häufig nicht durch Selbstreflexion und Handlungsplanung zu erreichen ist, sondern nur durch Umlernen auf der Ebene eingeschliffener Routinen – also durch Einübung neuer Verhaltensgewohnheiten.
4.3 Verhalten ist abhängig von Person und Kontext
Dürfte ich nur einen einzigen Satz Psychologie lehren, dann würde ich mich für diese Aussage entscheiden: Wenn du das Verhalten eines Menschen erklären willst, dann achte auf Personfaktoren und auf Kontextfaktoren. Denn,
was
ein Mensch wahrnimmt,
was
er denkt,
was
er fühlt,
was
ihn motiviert,
wie
er sich reguliert und
welches
Verhalten aus alledem herauskommt, das hängt von diesem Menschen ab, aber auch von dem jeweiligen Kontext. Die Eingangsbeispiele «Wortmeldung» und «Ehestreit» haben dies bereits illustriert.
Jetzt geht es um einige grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Person und Kontext, auch um die Bedeutung der Aussage: «Ich bin ich.» Der Persönlichkeitsforscher Lawrence Pervin hat das merkwürdige Spannungsverhältnis beider Seiten, das man bei einer Selbstbetrachtung zuweilen wahrnimmt, sehr schön beschrieben. «Erstens: Unser Verhalten variiert mit der Situation, in der wir uns befinden. Wir verhalten uns im Beruf anders als auf einer Party. Es ist sogar ein Unterschied, ob wir die Party mit Fremden oder mit Freunden feiern.» (…) «Zweitens: Wir verhalten uns (…) unterschiedlich und betrachten uns doch zugleich als ein und dieselbe Person. Man erlebt beides: Veränderung und Stabilität, unterschiedliches Verhalten und, dieselbe Person zu sein. Wäre mein Verhalten über alle Situationen hinweg immer gleich, so wäre es perfekt vorhersagbar; aber ich und die anderen würden sich fragen, warum ich so rigide bin und mich in manchen Situationen so unangebracht verhalte. Und umgekehrt: Ohne erkennbare Konsistenz oder ohne Linie in meinem Verhalten würde ich oft wie ein Chamäleon erscheinen und hätte mit Gefühlen der Entpersonalisierung zu schaffen. Bei zu viel Flexibilität wüsste man nicht mehr, wer man ist oder ob man überhaupt eine Person ist. Die meisten Menschen stellen sich von Zeit zu Zeit solche Fragen, vorwiegend in der Pubertät, wenn es darum geht, eine Identität zu entwickeln, oder dann, wenn sie etwas tun, was gar nicht zu ihnen ‹passt›, und dann versuchen, ein solches Verhalten wieder mit dem in Einklang zu bringen, was sie von sich wissen und glauben.»
Man braucht also auf jeden Fall beide Seiten. Wir brauchen den Faktor
Kontext
, weil sich derselbe Mensch unterschiedlich verhält, je nachdem, an welchem Ort, vor welcher Aufgabe oder unter welchen Mitmenschen er sich befindet. Ich singe in der Badewanne, aber nicht im Büro; ich melde mich im Fach Englisch, aber nicht in Mathe; ich schimpfe mit dem Azubi, aber nicht mit dem Chef. Je nach Kontext hat man unterschiedliche Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle und Motivationen, und daraus resultiert unterschiedliches Verhalten.
Den Faktor
Person
brauchen wir aus drei Gründen: ( 1 ) Verschiedene Menschen verhalten sich
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