Abschied von der Küchenpsychologie
Prozentzahlen zur Erblichkeit beziehen. Weiß man dies, wird man folgern, dass durch die Bildungsrevolution in Cocotanien der Grad der Erblichkeit steigen müsste! Wieso das?, werden Sie vielleicht fragen. Sollte man nicht annehmen, dass durch eine intensive Schulbildung eher der Umweltanteil mehr Gewicht bekommt? Nein, diese Annahme beruht auf einem verbreiteten, auch in öffentlichen Debatten mitschwingenden Irrtum zum Thema «Erblichkeit»! Der Sachverhalt ist nach meinen Erfahrungen allerdings nicht ganz leicht zu verstehen. Ich gebe zu, dass es mir bei der ersten Beschäftigung mit dem Thema auch so ging.
Grad der Erblichkeit = Stärke der genetischen Wirkung?
Der Irrtum liegt in der Annahme, die Prozentzahlen gäben an, ob die Erbanlagen oder die Umweltfaktoren sozusagen mehr «Kraft» bei der Entwicklung einer Person entfalten; man denkt an Wirkungen
innerhalb
eines Menschen. Tatsächlich beziehen sich die Anteile jedoch auf die Erklärung von
Unterschieden
zwischen den Menschen: Welche Rolle spielen hierbei genetische oder Umweltunterschiede? Auf den Einzelnen bezogen gibt es, genau genommen, gar nicht mehr oder weniger Umwelt-«Einfluss», sondern nur unterschiedliche Arten der Umwelt. Wenn man z.B. die schulische Förderung intensiviert, heißt das ja nicht, dass die Umwelt jetzt mehr Einfluss bekommt, sondern dass die Person jetzt einer
anderen
Umwelt ausgesetzt ist und ihre Entwicklung damit in eine andere Richtung gelenkt wird.
Mit welchem Anteil diese Umweltunterschiede und die genetischen Unterschiede an der Unterschiedlichkeit von Menschen beteiligt sind – nur darum geht es bei den Prozentzahlen. Die individuellen Unterschiede sind umso eher genetisch bedingt, je mehr sich die Menschen in ihren Genomen unterscheiden, und ebenso ist der «Einfluss» der Umwelt umso bedeutender, je größer die Umweltunterschiede sind. Eine Aussage wie etwa «Die Intelligenz ist zu 55 Prozent erblich bedingt» ist insofern eine missverständliche sprachliche Verkürzung. Sie müsste eigentlich lauten: In der untersuchten Bevölkerung beruhen die Intelligenzunterschiede zu 55 Prozent auf genetischen Unterschieden (im Fachterminus: die Varianz der Intelligenzwerte lässt sich zu 55 Prozent durch genetische Varianz erklären). Dabei handelt es sich übrigens immer um statistische Werte aus Untersuchungen an größeren Stichproben, nicht um Zahlen, die sich auf zwei konkrete Personen übertragen lassen.
Wie Pferde und Jockeys
In anschaulicher Weise vergleicht der Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf die Anteile von Erbe und Umwelt mit den Anteilen von Pferd und Jockey beim Pferderennen. Will man die Unterschiede in den Rennleistungen erklären, so gilt: Je «gleicher» die Pferde, umso wichtiger der Jockey und umgekehrt. Wenn alle Pferde gleich gut sind, kommt es nur auf den Jockey an; sein Anteil am Erfolg steigt rechnerisch auf 100 Prozent und der Anteil der Pferde sinkt auf null. Sind alle Jockeys gleich gut, hängen die Leistungen zu hundert Prozent von den Pferden ab. Dennoch bleibt es bei jedem einzelnen Pferd-Jockey-Paar eine gemeinsame Leistung: Pferd und Jockey wirken untrennbar zusammen, beide sind sozusagen zu hundert Prozent beteiligt.
Bei jedem
einzelnen
Menschen wirken Erbe und Umwelt untrennbar zusammen. Man kann also z.B. die Ängstlichkeit von Otto A. nicht zu 40 Prozent auf seine Gene und zu 60 Prozent auf die Umwelt oder die Intelligenz von Ottilie B. zu 70 Prozent auf ihre Gene und zu 30 Prozent auf die Umwelt zurückführen. Jeder Faktor funktioniert nur zusammen mit dem anderen, und ihre Mitwirkungsanteile auseinanderzurechnen, wäre so unergiebig, wie wenn man darüber stritte, ob der Magen oder die Nahrung den größeren Anteil an der Verdauung hat. Wenn der eine Mensch lernbehindert und der andere ein Genie ist – in beiden Fällen haben sein Genom wie auch seine Umwelt jeweils sozusagen zu hundert Prozent mitgewirkt.
Aber man kann fragen, woher der
Unterschied
zwischen diesen beiden Menschen kommt, und daran könnten genetische Unterschiede und Umweltunterschiede in unterschiedlichem Maße beteiligt sein. Der genetische Anteil kann hierbei sogar null sein, sofern es sich nämlich um eineiige, also genetisch identische Zwillinge handelt. Den umgekehrten Fall, nämlich eine absolut identische Umwelt für zwei Menschen, gibt es real zwar nicht, aber könnte man sie erschaffen, so wäre der Umweltanteil an den Unterschieden der Menschen ebenfalls null – ohne dass sie für jeden
Weitere Kostenlose Bücher