Abschied von der Küchenpsychologie
tatsächlich sehr konstant verhält, in anderer Hinsicht jedoch eher uneinheitlich je nach Situation. Vielleicht legt Herr X Wert darauf, sich immer friedfertig zu verhalten, aber nicht immer ehrlich, während es bei Frau Y eher umgekehrt ist.
Nun wird auch in der Psychologie versucht, vielfältige Verhaltenstendenzen auf umfassende Eigenschaften zu reduzieren, allerdings erst nach ausgiebigen Zusammenhangsanalysen. Das Musterbeispiel sind die Big Five (s.S. 65 ). Doch auch sie können das Verhalten von Menschen nicht erschöpfend erklären; auch sie machen also einen gründlichen Blick auf Person-
und
Kontextfaktoren und die Art ihres Zusammenspiels nicht überflüssig.
Bei Aussagen über Personfaktoren gibt es jedoch auch Alternativen. Statt mit Charaktereigenschaften lässt sich das Verhalten eines Menschen oft leichter mit
weniger allgemeinen
Personfaktoren erklären und vorhersagen, etwa mit Einstellungen, Interessen, Vorlieben, Abneigungen und Verhaltensgewohnheiten. Solche Angaben sind spezifischer, weil sie faktisch auch Kontexte mit ansprechen, denn es geht dann ja um eine Einstellung «zu» … (z.B. Kernenergie), ein Interesse «für» … (z.B. Malerei) oder eine Abneigung «gegen» … (z.B. deutsche Schlager). Mit spezifischen Angaben wird vielleicht auch aus einem «ängstlichen» Menschen ein Mensch mit starker Prüfungsangst, aber ohne Höhenangst. Ein «hilfsbereiter» Mensch ist dann vielleicht einer, der fast immer ja sagt, wenn man ihn um einen Gefallen bittet, allerdings nicht in einer Hilfsorganisation mitarbeitet. Oder ein «ordentlicher» Mensch lässt in seiner Wohnung nichts herumliegen, aber die Ordnung in den Schränken ist nicht so seine Sache. Solche spezifischen Aussagen zur Person passen meist besser zu dem sichtbaren Verhalten als Eigenschaftswörter (s. auch S. 65 f.).
Noch ein weiterer Aspekt kann den Erklärungswert von personbezogenen Aussagen verbessern. Bei
Charakter
eigenschaften denkt man nämlich vorrangig an die sozialen Haltungen und moralischen Wertvorstellungen eines Menschen. Dass Verhalten auch eine Frage des
Könnens
ist, wird leicht übersehen. So haben manche Menschen durchaus den Wunsch, Beziehungen anzuknüpfen, nicht aber die soziale Kompetenz, dies auch umzusetzen. Manche Menschen möchten sich weniger aggressiv verhalten, aber es mangelt ihnen an der Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Wenn man also auf der Personseite auch Aspekte des Könnens wie Fähigkeiten oder eingeschliffene Automatismen beachtet, kommt man meist weiter als mit Erklärungen allein aus dem «Charakter».
Dennoch ist es schwer, im Alltag ohne allgemeine Eigenschaftswörter wie «extravertiert», «ängstlich», «hilfsbereit», «intelligent» auszukommen. Wir können sie kaum vermeiden, wenn wir uns mit anderen in knapper Form über typische Verhaltenstendenzen eines Menschen verständigen wollen. Ihr Nutzen liegt dann aber weniger darin, konkretes Verhalten zu erklären, als Personen zu
beschreiben
, und dabei vergleichen wir sie implizit mit anderen Menschen. Eine Aussage wie «Ines ist ziemlich ehrgeizig» ergibt ja nur einen Sinn, wenn es Menschen gibt, die nicht ehrgeizig sind. Durch Wörter wie «sehr», «ziemlich», «wenig» usw. wird eine Person in ein gedachtes Spektrum von Menschen eingeordnet. «Ines ist ziemlich ehrgeizig» bedeutet dann «überdurchschnittlich» ehrgeizig. «Maria ist sehr hilfsbereit» heißt dann: Nur wenige Menschen, die ich kenne, helfen so oft und so gerne wie Maria. «Otto ist wenig aggressiv» bedeutet dann: Verhaltensweisen wie Beleidigen, Spotten, Hänseln oder Handgreiflichkeiten zeigt er seltener als die meisten Menschen.
Die Beschreibungen sind in jedem Fall subjektiv, und wer sich dessen bewusst ist, kann sie in eine Ich-Form kleiden wie etwa: «Ich empfinde Otto als ziemlich schüchtern» oder: «Auf mich wirkt Ottilie ziemlich dominant.» Und vielleicht fügt man noch hinzu, aus welchen Kontexten man die Person kennt. Denn es ist ja nicht bedeutungslos, ob wir jemanden nur aus dem Beruf kennen oder nur aus dem Sportverein oder nur aus privaten Geselligkeiten oder aus all diesen Kontexten.
Folgen einseitiger Person-Betonungen
Schaut man bei Verhaltenserklärungen vorwiegend auf Personaspekte, kann das zuweilen problematische Folgen haben. Nicht selten wirkt es sich in zwischenmenschlichen Konflikten recht destruktiv aus. Kommt es beispielsweise in einer Paarbeziehung zu Konflikten, werfen sich die Partner häufig gegenseitig vor,
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