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Abschied von der Küchenpsychologie

Abschied von der Küchenpsychologie

Titel: Abschied von der Küchenpsychologie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Peter Nolting
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Einzelnen weniger bedeutsam wäre! Selbst wenn eine Krankheit eindeutig auf einer genetischen Abweichung beruht und deshalb als «Erbkrankheit» gilt, heißt das nicht, dass sie sich ohne Umwelt entwickeln kann. Es heißt vielmehr: dass ein bestimmter Mensch die Krankheit bekommt, während andere sie nicht bekommen – dieser Unterschied beruht auf einer unterschiedlichen genetischen Ausstattung.
    Und nun zurück zu Cocotanien. Weil dort durch die Einführung der Schulpflicht die Umwelt für die Heranwachsenden «gleicher» geworden ist, also die Umweltunterschiede geringer geworden sind, beruhen die Intelligenzunterschiede zwischen den Bewohnern nun stärker als vorher auf genetischen Unterschieden. Und man könnte das Beispiel noch weiter denken: Wenn es gelänge, jeden einzelnen Bewohner wirklich optimal zu fördern, dann wären die verbleibenden Unterschiede nur noch genetisch erklärbar.

    Mit den vorangehenden Klarstellungen, die in der Tafel noch einmal zusammengefasst sind, erweisen sich auch zwei weitere Annahmen als Missverständnisse: dass nämlich Prozentzahlen zur Erblichkeit feste Größen seien und vor allem, dass sie etwas über das Ausmaß der Beeinflussbarkeit aussagen. Wieso sind das Missverständnisse?
    Erblichkeitszahlen: feste Größen?
    Wie das fiktive Beispiel der Schulpflicht in Cocotanien deutlich macht, sind Erblichkeitsprozente keine konstanten Größen. Sie können von Bevölkerung zu Bevölkerung variieren und sich mit gesellschaftlichem Wandel verändern. Die meisten Zwillings- und Adoptionsstudien beziehen sich auf westliche Industrienationen, und die dort gefundenen Zahlen lassen sich nicht ohne weiteres auf andere Populationen übertragen. Wo die Umweltunterschiede sehr krass sind, spielen sie, wie dargelegt, auch für die individuellen Unterschiede eine große Rolle und entsprechend kleiner ist rechnerisch der Anteil der Erblichkeit, und wo die Umwelt für alle Menschen identisch wäre, wären alle Unterschiede nur noch erblich.
    Erblichkeitszahlen variieren überdies natürlich auch, je nachdem um
welche psychischen Merkmale
es geht. Es gibt keine Prozentzahlen für die Unterschiedlichkeit «ganzer» Menschen, sondern nur für einzelne Merkmale wie etwa Intelligenz, Musikalität, Einstellungen oder Religiosität. So ermittelt man beispielsweise für Intelligenzunterschiede gewöhnlich eine höhere Erblichkeit als für Unterschiede in Einstellungen. Aufs Ganze gesehen, also bei einer Gesamtschau auf viele Einzelmerkmale, haben genetische Unterschiede und Umweltunterschiede ungefähr dasselbe Gewicht.
    Genetisch bedingt = unveränderlich?
    Prozentzahlen zur Erblichkeit haben nichts zu tun mit der Frage, wie weit die Erziehung und andere Umwelteinflüsse etwas bewirken können! « 70 Prozent erblich» bedeutet also nicht: «Nur noch zu 30 Prozent beeinflussbar, erziehbar, trainierbar». Denn da ja Erblichkeitswerte nur zur Erklärung individueller Unterschiede dienen und nicht zur Erklärung der individuellen Entwicklung, können sie auch nichts darüber sagen, wie weit diese Entwicklung zu beeinflussen ist. Wie dargelegt, wirken in der Entwicklung jedes einzelnen Menschen Erbe und Umwelt (sowie die Eigenaktivität; s.S.  71 ) untrennbar zusammen, ohne dass sich ihre Beiträge beziffern ließen.
    Will man Aussagen über die Beeinflussbarkeit machen, so müsste man die Umweltunterschiede künstlich vergrößern und z.B. in einem Experiment eine Gruppe in bestimmter Weise fördern, die andere nicht. Im Prinzip macht man genau dies, wenn man pädagogische oder therapeutische Methoden erprobt (ohne dass man hier von «Umweltunterschieden» spricht). Allerdings erlauben solche Versuche keine allgemeinen Aussagen über das, was
maximal
möglich ist, also über das Ausmaß der Beeinflussbarkeit. Man kann immer nur sagen, dass man mit den
bislang
ausprobierten Beeinflussungen dies oder jenes oder gar nichts bewirkt hat.
    Wie groß der Spielraum für Veränderungen ist, lässt sich also nicht beziffern. Vielleicht könnte er größer sein als bisher gedacht, wenn neue Erziehungsmethoden oder besser auf den Einzelfall zugeschnittene Förderungen entwickelt würden. Und wo psychologische Einflussnahmen scheitern, können eines Tages vielleicht Medikamente, wie etwa «Gedächtnispillen», Wirkungen erzielen, die bislang undenkbar schienen.
    Selbst bei hundertprozentiger Erblichkeit kann eine Einflussnahme möglich sein. Ein in der Wissenschaft berühmtes Beispiel ist die Stoffwechselstörung

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