Abschied von der Küchenpsychologie
wirksam sind? Da ist zunächst das
Verhalten der Eltern
. Auch wenn sie die Absicht haben, ihre Kinder «gleich» zu behandeln, wird dies nur unvollkommen gelingen – zum Teil schon deshalb, weil die Kinder sich in vieler Hinsicht, z.B. in Alter und Temperament, unterscheiden. Wie die Studien des bekannten Forscherpaares Judy Dunn und Robert Plomin zeigen, ist es normal, dass Eltern einem Kind mehr Aufmerksamkeit schenken als einem anderen, dass sie einem Kind mehr Zuwendung geben als einem anderen, oder dass sie ein Kind stärker kontrollieren als ein anderes.
Solche Unterschiede mögen Außenstehenden gering erscheinen, doch wenn ein Kind bemerkt, dass sein Geschwister anders behandelt wird als es selbst, so hat diese Erfahrung eine nachhaltige Wirkung auf die individuelle Entwicklung. So wird etwa ein Kind, das weniger Zuwendung und mehr Kontrolle erfährt als ein Geschwister, wahrscheinlich auch eher ängstlich und depressiv werden. Man kann es auch so sagen: Es kommt nicht nur darauf an, wie ein Kind von seinen Eltern behandelt wird, sondern auch darauf, wie im Vergleich dazu die Geschwister behandelt werden. Welche Unterschiede ein Kind hier wahrnimmt, das hat große Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung.
Weiterhin ist die familiäre Umwelt für Geschwister auch deshalb verschieden, weil sie naturgemäß
nicht dieselben Geschwister
haben; Kind A hat B als Geschwister, B dagegen A. Und das kann wichtig sein. Beispiele: Ein Geschwister nimmt gegenüber einem anderen eine Führungsrolle ein, übt eventuell sogar starke Dominanz aus. Oder: Ein Geschwister ist für das andere ein Lehrer, es macht Verhalten vor und erklärt die Welt. Oder: Ein Geschwister ist dem anderen Helfer, Unterstützer und Vertrauensperson. Auf jeden Fall dient ein Geschwister dem anderen als Vergleichsperson, z.B. hinsichtlich der Schulleistungen, der Beliebtheit bei anderen Kindern oder, wie erwähnt, bezüglich der Behandlung durch die Eltern.
Darüber hinaus, und dies ist leichter erkennbar, haben Geschwister auch
außerhalb der Familie
unterschiedliche Umwelten. Sie haben meist unterschiedliche Lehrer, oft auch unterschiedliche Schulen. Sie haben unterschiedliche Freunde und unterschiedliche Freizeitgruppen. Sie erleben unterschiedliche Ereignisse wie Unfälle und Krankheiten, Erfolge und Misserfolge. Sie haben später unterschiedliche Partner in einer Zweierbeziehung.
All dies bedeutet, dass auch Geschwister, die zusammen aufwachsen, nur zum geringeren Teil in einer gemeinsamen Umwelt leben, überwiegend aber in unterschiedlichen Umwelten. Selbst Zwillinge, die gleichzeitig aufwachsen, haben ihre «eigene Welt» – sowohl innerhalb der Familie als auch außerhalb. Dabei darf auch nicht vergessen werden, dass ja die Umwelt jedes Einzelnen nicht einfach «da ist», sondern durch die individuelle
Eigenaktivität
aufgesucht, geschaffen und gestaltet wird (s.S. 71 f.).
All dies heißt keineswegs, dass die Familie für die Entwicklung unwichtig ist. Es bedeutet nur, dass die familiären Erfahrungen von Kindern viel individueller sind, als das äußere Faktum «in derselben Familie aufgewachsen» auf den ersten Blick erwarten lässt.
Gemeinsame und nicht gemeinsame Umwelt im Vergleich
Die ganz individuelle Umwelt hat nicht immer so entscheidendes Gewicht wie bezüglich der oben erwähnten emotionalen und sozialen Persönlichkeitsaspekte. Bei anderen Personmerkmalen kommt der
gemeinsame
, der sozusagen familientypische Einfluss stärker zur Geltung, zumindest während der Kindheit. Das gilt etwa für die Intelligenz oder die Musikalität, da die Familie hier meist ein ungefähr gleiches Anregungsniveau für alle Kinder bietet. Weiterhin spielt der gemeinsame Familienhintergrund für Werthaltungen, Einstellungen, Weltanschauungen und Religiosität sowie für die Neigung zu aggressivem und delinquentem Verhalten eine deutliche Rolle.
Nach der Kindheit verringert sich jedoch der Familieneinfluss auch bezüglich der eben genannten Merkmale, da mit dem Verlassen der Herkunftsfamilie die Umwelten der Geschwister weiter auseinandergehen. So stimmen denn auch die Intelligenzwerte von Geschwistern nach der Kindheit weniger überein als während der Kindheit. Bei Adoptivgeschwistern gibt es nur im Grundschulalter eine schwache Korrelation und nach der Kindheit gar keine mehr.
Zusammengefasst: Die Unterschiede zwischen Menschen beruhen sowohl auf genetischen Unterschieden als auch auf Umweltunterschieden (s. Kapitel 7.2 ). Die
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