Abschied von der Küchenpsychologie
«schuld» zu sein, und vergiften damit das Klima. Ihre Aussage lautet dann im Grunde: «Du bist das Problem», obwohl der Konflikt möglicherweise auch anders betrachtet werden könnte, nämlich als Problem «zwischen» ihnen. Sagt man: «
Wir
haben ein Problem» (z.B. Missverständnisse, divergierende Interessen), dann wird aus einem Personproblem ein interpersonales Problem.
Ein anderes Beispiel ist die schriftliche Beurteilung eines Menschen, beispielsweise in Form von sog. Kopfnoten zum Leistungs- und Sozialverhalten in manchen Schulzeugnissen. Ein Argument für solche Noten lautet, dass eventuelle Arbeitgeber auf diese Weise nützliche Informationen über die Bewerber erhalten. Das ist zwar denkbar, aber keineswegs sicher. Die Beurteilungen können auch irreführen. Denn rein personbezogene Aussagen können den Eindruck erwecken, dass X beispielsweise aggressiv, unzuverlässig oder widerspenstig «ist», obwohl man eigentlich auch die Kontextfaktoren kennen müsste. Man erfährt also nicht, ob der Schüler das benotete Verhalten wirklich bei allen Lehrkräften zeigt oder nur bei X und Y, oder ob er sich nur zusammen mit seiner Clique so verhält, nicht aber allein. Ohne solche Spezifizierungen könnten Leser sich von dem Schüler ein festes Bild machen, das sich an einem interessanten Arbeitsplatz und unter neuen Kollegen möglicherweise gar nicht bestätigen würde. Ein Schüler, der in der Schule «faul» und «unzuverlässig» erscheint, wird vielleicht anders auftreten, wenn er beispielsweise seiner großen Leidenschaft fürs Kochen nachgehen kann – aber aufgrund der Kopfnote bekommt er keine Lehrstelle als Koch.
Eine weitere problematische Folge einseitig personaler Erklärungen könnte sein, dass die Lösung eines Problems nur auf der Personebene («X muss sich ändern») gesucht wird. So könnte der Blick versperrt bleiben für eine Änderung der Umstände (z.B. der Arbeitsbedingungen) oder für eine Änderung auf interpersonaler Ebene (z.B. Kommunikationstraining für Paare), obwohl solche Ansätze vielleicht viel aussichtsreicher wären.
7.2 «Zu 70 Prozent erblich = zu 30 Prozent beeinflussbar»
Erblichkeit ist nicht nur ein Thema für die Wissenschaft, sondern auch für politische Debatten und Ideologien. So hat denn wohl jeder schon einmal Zahlen gehört wie etwa diese: «Die Intelligenz ist zu 55 Prozent erblich» oder «Charaktereigenschaften sind zu 40 Prozent erblich». Doch was bedeuten eigentlich solche Aussagen? Und was hat die folgende Geschichte damit zu tun?
Cocotanien war bislang ein Land mit sozialen Gegensätzen. Während die meisten Menschen niemals eine Schule besuchten und für immer Analphabeten blieben, bekamen die Kinder einer reichen Oberschicht eine geradezu elitäre Schulbildung. Aber zwei Ereignisse veränderten das Land innerhalb weniger Jahre. Zum einen wurden in Cocotanien riesige Erdölvorkommen entdeckt, und zum anderen bekam das Land einen neuen Regenten. König Coco XII . war menschlicher und weiser als seine Vorgänger und lenkte das Geld aus den Erdölexporten in das Bildungssystem seines Landes. Bald gingen alle Kinder zur Schule und erhielten eine so exzellente Förderung, dass auch die Bildungspolitiker aus allen 16 deutschen Bundesländern heimlich anreisten, um von Cocotanien zu lernen.
Aber auch die Wissenschaftler kamen mit ihren Tests herbei. 20 Jahre zuvor hatten sie schon einmal in Cocotanien landesweite Erhebungen durchgeführt und stellten nun mit Freude fest, dass sich die geistigen Fähigkeiten – sowohl schulische Kompetenzen als auch Intelligenztestleistungen – tatsächlich im Durchschnitt deutlich verbessert hatten und dass überdies die Unterschiede der Cocotanier hinsichtlich dieser Fähigkeiten nicht mehr so groß waren wie früher.
Die Forscher nutzten darüber hinaus die Gelegenheit für eine erneute Studie zur Erblichkeit geistiger Fähigkeiten, wie üblich mit Hilfe von Zwillingsstudien und Adoptionsstudien. Und nun kommt die entscheidende Frage: Welches Ergebnis wäre nach den Veränderungen in Cocotanien für den
Grad der Erblichkeit
zu erwarten? Zu welcher der folgenden Antworten würden Sie tendieren?
Vermutlich hat sich die Erblichkeit
verringert
.
Vermutlich hat sich die Erblichkeit
vergrößert.
Solche Änderungen in der Umwelt
ändern nichts
an der Erblichkeit.
Keine Ahnung. Ich kenne Cocotanien ja gar nicht.
Nehmen Sie sich etwas Zeit zum Nachdenken!
Um die Frage zu beantworten, muss man wissen, worauf sich
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