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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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sie sich neben mich und fährt mir durchs Haar.
    Trotzdem hört sie ruhig und mit glänzenden Augen zu, als Ash die gängigsten Geschichten und ein paar darum herumrankende Gerüchte zum Besten gibt. In meinen Ohren klingt das Ganze wie eine niemals aufgeklärte Tragödie, die im Lauf der Jahre zu einer vulgären Horrorgeschichte mutiert ist.
    Als ich beiseiterücke, um Nikita durchzulassen, die zur Toilette will, spüre ich meine Tasche am Bein und erinnere mich. Ich beuge mich vor, berühre mit den Fingern die Plastiktüte und greife vorsichtig nach dem Messer. Einen Augenblick lang halte ich es in der Tasche in der Hand und überlege. Soll ich es Ashley allein zeigen oder warten, bis Nikita zurück ist? Aber ich zögere zu lange, und der Mut verlässt mich. Die Chance verstreicht.
    Als Nikita von der Toilette zurückkommt, sieht sie eine Münze auf dem Fußboden, bückt sich und hebt sie auf. Ich sitze so, dass ich ihren Rücken sehen kann. Als sie sich wieder erhebt, hakt sie die Finger in die Gürtelschlaufen ihrer Jeans, um sie über die Hüften zu ziehen.
    Und in diesem Augenblick bleibt die Zeit stehen. Der Lärm, der mich umgibt, verstummt. Mein Mund ist vollkommen trocken, und ich nehme etwas mit unnatürlicher Deutlichkeit wahr. In der Sekunde, bevor Nikita ihre Hose richtig hochzieht, sehe ich ein Stück von ihrem Slip über dem Bund hervorschauen. Helllila Stoff mit weißen Punkten. Ein Slip aus einem Doppelpack. Meine Schläfen beginnen zu pochen, als mir klar wird, wo sich der andere Slip befindet. Er liegt um ein Messer gewickelt unten in meiner Handtasche.

16. Kapitel
    Bereits in der dunklen Biegung auf dem Weg zum Eingangstor sehen wir, dass ein seltsam graugelber Nebel wie ein Lichtring über dem nachtschwarzen Himmel von Mill Creek Manor aufstrahlt. Unser trunkenes Lachen verstummt, als wir das vereiste Kopfsteinpflaster entlangschlittern. Der ungesund blasse Schimmer hebt das Anwesen deutlich von dem undurchdringlichen Nachthimmel ab. Es sieht aus, als würde es ein Stück über der Erde schweben. Ashley drückt meinen Arm, und ich bin mir nicht sicher, ob das eine bewusste Geste ist oder nicht.
    Wir sehen auch, dass Raymond uns bereits vor der Portiersloge erwartet. Sein Gesicht ist vor Wut stark gerötet.
    »Da sind Sie ja endlich! Was zum Teufel haben Sie angestellt?«
    Nikita starrt ihn wortlos an.
    »Was ist denn los?«, frage ich.
    »Ja, das würde ich auch gern wissen. Was ist das bloß für ein verdammtes Chaos.«
    Er sieht so aus, als würde er jeden Augenblick mit dem Fuß auf der kalten Erde aufstampfen.
    »Und ich hatte geglaubt, Sie seien ein ordentliches Mädchen! Man kann Sie wegen so etwas relegieren! Das sollte Ihnen eigentlich klar sein.«
    »Aber …«, beginnt Nikita vorsichtig.
    Erst jetzt begreife ich, dass Raymond nicht auf uns beide wütend ist, sondern nur auf sie.
    »Was ist denn passiert?«, frage ich. »Nikita war doch heute gar nicht hier. Sie war seit heute früh in der Akademie, und nach dem Unterricht sind wir direkt in die Stadt gegangen.« Ich halte meine Tasche hoch, als sei das eine Art Beweis. Ash pflichtet mir mit gedämpfter Stimme bei.
    »Von wegen«, sagt Raymond und presst die Lippen zusammen.
    »Das ist gelogen.« Dann berührt er Nikitas Schulter mit dem Zeigefinger.
    »Sie waren heute Nachmittag hier, junge Frau. Errol hat gesehen, wie Sie das Gebäude betreten haben.«
    Er nickt in Richtung seines mageren Kollegen, der hinter dem Schiebefenster der Pförtnerloge sitzt und uns betrübt anschaut, als wolle er uns zu verstehen geben, wie sehr es ihm widerstrebt zu petzen, aber dass da nun einmal nichts zu machen gewesen sei. Raymond dagegen scheint Nikita und mich am liebsten am Kragen packen und ins Haus schleifen zu wollen. Aber er weiß sich zum Glück zu beherrschen.
    »Jetzt gehen wir zusammen hoch und sehen uns die Zerstörung an. Und Sie, Sie gehen am besten einfach auf Ihr Zimmer«, sagt Raymond zu Ashley und deutet eine scheuchende Handbewegung an.
    Bereits im Korridor hören wir ein Brummen aus Zimmer 45. Das Geräusch ist dumpf und metallisch. Ich verspüre Furcht, ein resigniertes Schuldgefühl, das eigentlich gar nichts mit mir zu tun hat, mich aber nicht loslässt, weil Raymond uns wie ungezogene, freche Kinder behandelt. Es ist für mich wie ein Faustschlag. Warum?
    Wahrscheinlich, weil ich daran gewöhnt bin, dass man mir anders begegnet, höflich und mit Respekt. Bisweilen sogar mit einer gewissen Unterwürfigkeit. Als sei ich nicht nur

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