Abschiedskuss
Gruppe sind selten ganz korrekt«, fügt er hinzu und betont das letzte Wort so, dass ich die Anführungsstriche förmlich in der Luft sehen kann. »Paradoxerweise ist die zweite Gruppe rein beruflich meist erfolgreicher. Ich wünschte mir, ich würde auch zu ihr gehören. Sie haben Fantasie, verstehen Sie. Ein ausgeprägtes Bildgedächtnis. Ich meine, schauen Sie sich dieses Fahrrad an. Es stimmt daran zwar irgendwie nichts, aber trotzdem hat es mehr Leben und Charakter als alle Skizzen im Aktsaal zusammen.«
Mir fehlen die Worte.
»Schauen Sie«, beginnt Pol Pot erneut und misst mit dem Daumennagel die Größenverhältnisse meiner Zeichnung. Unsere Köpfe stoßen über dem kleinen Papier beinahe zusammen. Ich spüre den eisigen Regen nicht mehr.
»Das ist ganz offensichtlich ein altes, ramponiertes Fahrrad«, fährt er fort. »Aber es ist ein fröhliches Fahrrad, nicht wahr? Man könnte fast sagen, ein Fahrrad, das geliebt wird. Ich meine, Sie haben so viel Information mit so einfachen Mitteln rübergebracht, alle Details, den kleinen Fahrradkorb, den geflickten Reifen … man sieht den Besitzer förmlich vor sich. Das ist gut gemacht.«
»Aber …«, stottere ich. »Das ist doch so … kindisch.«
»Tja. Und wie heißt der Studiengang, den Sie belegen?«, fragt er mit gespielter Strenge. Vielleicht spielt er aber auch nicht.
»Buchillustration«, sage ich etwas dumm.
»Genau«, erwidert Pol Pot und verschränkt seine kurzen braunen Arme auf seinem Bauch. »Es geht um die Illustration von Texten, von Geschichten, um erzählende Bilder. Und wer, glauben Sie, wird vornehmlich Ihr zukünftiger Arbeitgeber sein?«
Ich schüttele den Kopf und zucke mit den Achseln.
»Kinderbuchverlage«, sagt er mit Nachdruck. »Es gibt Schlimmeres, das kann ich Ihnen versichern. Sie werden sich doch hoffentlich für den Bilderbuchlehrgang nächstes Jahr hier am Institut bewerben? Das ist einer der besten des Landes, und mir ist nur selten eine geeignetere Kandidatin untergekommen. Die Einfachheit Ihrer Linienführung kann man nicht anders als raffiniert nennen.«
»Nein, ich weiß nicht … ob ich mir das leisten kann«, sage ich.
»Leisten können? Unsinn!«, ruft Pol Pot. »Wenn ich nur halb so begabt wäre wie Sie, würde ich mir das Geld zusammenborgen, betteln oder stehlen, um diesen Kurs besuchen zu können. Übrigens, sind Sie wirklich der Meinung, dass Sie kindisch zeichnen?«
Ich nicke wortlos und schaue auf meine Zehen. Pol Pot lacht heiser.
»›Ich konnte schon früh zeichnen wie Raffael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind.‹ Wer hat das gesagt?«, fragt er.
»Picasso …«, sage ich zögernd.
Er klopft mir auf die Schulter.
»Genau. Pablo Picasso. Jetzt verzichten wir auf diese Aktmalerei, zumindest was Sie betrifft. Es wird höchste Zeit, dass wir Ihre wahren Talente perfektionieren.«
23. Kapitel
Der November fegt das letzte schwarze Laub von den Bäumen. Kein Sonnenstrahl verirrt sich in den Innenhof von Mill Creek Manor, und die Kälte durchdringt mich mit solcher Macht, dass ich nach Atem ringe. Trotzdem bleibe ich sitzen und schaue wie gebannt zu Zimmer 45 hinauf. Was erwarte ich dort zu sehen? Vier runde weiße Frauengesichter, die sich gegen die Scheibe drücken und freudlos lächeln? Unsichtbar für alle, außer für mich?
Nikita arbeitet den ganzen Tag im Zeichensaal an einem Bild, von dem sie hofft, dass es zur Winterausstellung der Abschlussklasse angenommen wird. Ich frage mich, ob die Akademie einen Psychologen hat, mit dem man über seine Probleme reden kann. Ich verliere langsam den Verstand. Am liebsten würde ich über meine abwegigen Überlegungen mit Nikita reden, aber ich will sie nicht unnötig in Angst versetzen. Habe ich selbst Angst? Ich reibe mir mit den Handballen die Augen. Gesprächsfetzen dringen aus dem Gebäude zu mir herüber, jemand hat die Türen zum Hof geöffnet.
Nein, ich habe keine Angst, beschließe ich. Ich bin wütend. Wütend auf mein Schicksal und wütend auf das, was mit Mama und mit den vier jungen Frauen aus dem Wohnheim geschehen ist.
»Hallo«, sagt eine leise Stimme. Ashley tritt mit zwei dampfenden Pappbechern aus der Studentenbar zu mir heran. »Schöner Tag zum Draußensitzen«, sagt er ironisch. »Ein Tee für die Masochistin gefällig?«
Dankbar strecke ich die Hand nach dem dampfenden Becher aus. Ein Ritual, das so eingefleischt ist in diesem Land, dass man meint, die ganze Bevölkerung müsse
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