Abschiedskuss
sie außer mir überhaupt jemanden gesehen hat. Sie hält etwas in der Hand, das ich nicht richtig erkennen kann, vielleicht ein in Folie verpacktes, belegtes Brot oder ein Stück Kuchen. Sie lehnt mit dem Rücken an der Wand. Ich werfe einen Blick über die Schulter und sehe gerade noch Professor Chesterfield, der den Saal, in dem alle Lampen gelöscht sind, als Letzter verlässt.
In diesem Augenblick tritt Arabella vor. Ich sehe, wie sie ihrem Vater mit einem strahlenden Lächeln das belegte Brot hinhält. Aber er scheint ihr Lächeln nicht zu erwidern. Er schaut eher verwundert drein, fast verängstigt, finde ich. Als sie ihn an der Hand nimmt und hinter sich herzieht, bewegt er sich zögernd und steif.
»Habt ihr vor, etwas für die Ausstellung einzureichen?«, fragt Ashley und hakt sich bei Nikita ein. Sie kaut nachdenklich auf einer Haarsträhne und winkt abwägend mit der Hand: vielleicht. Ich halte die Gitterpforte zu dem schmalen Kiesweg auf, der um den Hirschgarten herumführt. Schlanke Bäume wölben ihre Kronen über uns und verwandeln den Weg in einen Tunnel aus glänzendem gelbem Laub.
Der Regen hat nachgelassen, und der graue Nachmittag ist einem zarten Sonnenuntergang gewichen. Hier und dort schafft es die Sonne, die dünne Wolkendecke zu durchbrechen. Die Natur kommt einem vor wie frisch geduscht. Es duftet nach Moos, ein Duft, der ein wenig an einen Badeschwamm erinnert. Ein paar Herbstkräuter lugen zaghaft zwischen den Grasbüscheln hervor. Im Hirschgarten steigt leichter Nebel von der zertrampelten Erde auf. Die wachsamen Tiere wirken aus der Nähe viel größer und kräftiger. Die vom Regen gestriegelten, dunklen Körper bewegen sich behutsam umeinander herum.
Es knackt, als eine Hirschkuh in der Nähe des Zauns mit ihrem Huf auf einen trockenen Zweig tritt. Ich schaue auf und sehe direkt in ihre onyxschwarzen Augen. Das Fell ist vom Regen verklebt und bildet eine Art Zackenmuster. Ich bin erstaunt, wie dick dieser Pelz ist.
Eine Joggerin taucht mit schwerem Schritt hinter uns auf und umrundet uns. Die Hirschkuh zuckt erschrocken zusammen und verlässt den Zaun, um zwischen ihren Artgenossen eine sicherere Position einzunehmen.
»Ich glaube nicht, dass ich etwas einreiche«, sage ich. »Ich habe nichts auf Lager, nichts, was das richtige Kaliber für so eine Ausstellung hätte. Und etwas Neues würde ich nicht rechtzeitig fertig bekommen.«
»Sag das nicht«, meint Ash. »Du weißt gar nicht, wie viel man bewerkstelligen kann, wenn man nur richtig motiviert ist. Die Winterausstellung ist wirklich eine absolut gute Gelegenheit. Die darf man sich nicht entgehen lassen.«
Nikita löst ihr Haarband, um das volle Haar zu schütteln. Die Bewegung wirkt irgendwie absichtlich, und aus einem Impuls heraus schaue ich zum Gebäude der Professoren hinüber. Die efeubedeckte Rückseite liegt zum Tiergehege hin. Schaut etwa von dort oben jemand auf uns herab?
»Stimmt«, sagt sie. »Ich kenne ein Mädchen, die dasselbe studiert hat wie wir und die im Foyer ausstellen durfte. Sie wurde sofort von einem amerikanischen Verleger entdeckt, und der hat gerade ihren ersten Bildroman veröffentlicht.«
Ich bleibe stehen, um meine Socke hochzuziehen, die mir unter die Ferse gerutscht ist. Ash und Nikita merken es nicht und gehen ins Gespräch vertieft ohne mich weiter.
Die Sonne ist verschwunden, und das Haus der Professoren liegt bereits im Schatten, der Park und der Weg, auf dem ich stehe, ebenfalls. Der Abend hat es jetzt eilig.
Plötzlich zieht etwas im Park meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein schöner und gleichzeitig seltsam unbehaglicher Anblick. Ganz in der Nähe des Professorengebäudes, und wenn ich mich nicht irre genau auf der Höhe von Chesterfields französischem Balkon.
Ich trete ein paar Schritte näher an den Zaun und spähe durch einige dünne Zweige, die bis auf den Boden herabhängen. Eine lähmende Kälte breitet sich in mir aus.
Ich habe keine Ahnung, was ich sehe, kann die Augen aber nicht von der seltsamen Erscheinung losreißen. Es sind zwei schwache Lichter ein Stück über der Erde. Vielleicht acht oder zehn Meter vom nächsten Hirsch entfernt. Die Tiere scheinen nichts zu bemerken. Ich kann nicht erkennen, welchen Ursprung die Lichter haben. Ich sehe weder irgendwelche Metallbehälter, in denen jemand Feuer angezündet haben könnte, noch irgendwelche Partyfackeln auf der Erde.
Ich zwinge mich, auf den Weg zurückzuschauen, aber Nikita und Ashley sind bereits hinter einer
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