Abschiedskuss
Wegbiegung verschwunden. Ich kann sie nicht mehr sehen und auch nicht mehr hören. Ich höre nur die schnaubenden Geräusche hinter dem Zaun, den lauten Atem der Hirsche.
Als ich wieder in das Gehege schaue, sind die Lichter immer noch da, ein wenig heller fast und auch etwas höher, als würden sie in der Luft schweben. Sie haben etwas Ungesundes und flackern rastlos in der abendlichen Brise. Der von der Erde aufsteigende Dunst lässt den Eindruck entstehen, als seien die beiden Flammen von einem unnatürlichen Schimmer, von einer eiterfarbenen Glorie umgeben. Je länger ich dorthin schaue, desto stärker habe ich das Gefühl, dass sich die Flammen bewegen, als würden sie Pirouetten drehen, langsam, immer um die eigene Achse herum.
Ich fühle mich elend. Als würde mir eine große Hand den Hals zudrücken. Ich reiße die Augen von dem Traumbild los und stolpere den Weg weiter, bis ich Ashley und Nikita eingeholt habe.
Ich habe den Geschmack von Blut im Mund und lehne mich, auf meine Freunde gestützt, gegen einen glatten Baumstamm. Ich fange an zu husten, ein unangenehmer Husten, der nicht aufhören will. Es dauert eine Weile, bis ich wieder Luft bekomme. Ich versuche zu erklären, warum ich zurückgeblieben bin. Und was ich gesehen habe.
Als Ashley und Nikita an den Zaun treten, die Büsche beiseiteschieben und in das Hirschgehege blicken, sind die seltsamen Lichter verschwunden.
Ashley wickelt sich seinen langen Schal vom Hals und gibt ihn mir. Dann legt er einen Arm um meine Schultern.
»Komm. Jetzt gehen wir nach Hause«, sagt er mit ungewohnt fester Stimme und schiebt mich fast vor sich her. Er ist weiß im Gesicht.
Die Feuchtigkeit hat sich an den Grashalmen und auf dem braunen Laub in Eiskristalle verwandelt. Während wir durch die Dämmerung auf Mill Creek Manor zusteuern, murmelt Ashley:
»Nicht gut … überhaupt nicht gut.«
»Was?«, fragt Nikita. »Was ist nicht gut?«
Erst will er nichts sagen, aber nachdem wir ihn zum Aufwärmen mit etwas Alkoholischem in der Bar des Mill Creek Manor bestochen haben, werden seine Wangen langsam wieder rosig, und seine normale Unbeschwertheit kehrt ein Stück weit zurück. Auch ich taue innerlich auf, und vom Alkohol werde ich angenehm schwer und schläfrig. Stumpf.
»Komm schon, Ash«, drängt Nikita. »Weißt du, was Maja gesehen hat?«
»Ach, wahrscheinlich war es nur Einbildung«, werfe ich ein. »Ich bin einfach etwas übermüdet. Außerdem ist es so komisches, diesiges Wetter.«
Aber Ash schüttelt langsam den Kopf.
»Das waren Totenlichter.«
Seine Stimme klingt mit einem Mal ganz klein und schwach. Und verängstigt.
»Meine Mutter sieht sie manchmal«, fährt er fort. »Manche glauben, es sei ein geologisches Phänomen, ein Gas, das aus bestimmten Erdschichten entweicht oder etwas in dieser Art. Sümpfe und Morast und so. Aber meine Mutter ist sich ganz sicher, dass …«
»Aha«, unterbricht ihn Nikita und beugt sich vor. »Also ein Irrlicht? Ein mystischer Lichtschein, der einen plötzlichen, gewaltsamen Todesfall vorhersagt?«
Ashley nickt stumm. Er ist wieder weiß geworden.
22. Kapitel
Unser Dozent für Aktmalerei ist ein bärtiger, kleiner Wichtel mit Star-Wars-T-Shirt und gichtknotigen Händen. Er heißt Phil Potterton, wird aber scherzhaft Pol Pot genannt, obwohl oder gerade weil er so lieb ist.
Bereits während der ersten Unterrichtsstunden wird Pol Pot und mir klar, dass ich zum Aktzeichnen vollkommen ungeeignet bin. Es spielt keine Rolle, ob das Modell ein Mann oder eine Frau ist, ob jung, alt, stark behaart, dick oder umwerfend schön. Mein Kopf ist offenbar nicht dafür geschaffen, die menschlichen Formen, die auf dem Podest zu sehen sind, in Linien und Kurven, Licht und Schatten zu zerlegen und diese visuellen Informationen an die Hand zu senden, um auf diese Weise die sinnlichen Eindrücke auf die Motorik der Finger zu übertragen. Dabei spielt es für mich keine Rolle, ob es sich um einfache, in einer Minute zu bewältigende Aufgaben handelt oder um Arbeiten von einer Stunde mit komplizierten, ungewöhnlichen Stellungen und schwierigen Perspektiven.
Pol Pot hat schon mehr als einmal die verwachsenen Hände gerungen, mir andere Arbeitshaltungen vorgeschlagen und mich aufgefordert, seine eigene Staffelei mit verschiedenen Einstellungen auszuprobieren. Er hat mir inspirierende Bücher geliehen und neue Materialien empfohlen. Ich habe Stunden damit verbracht, auf die Handbewegungen und die freudige Konzentration meiner
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