Abschiedskuss
Mitstudenten zu schielen. Eifersüchtig habe ich zugesehen, wie sich ihre gekonnten Linien auf dem Papier zu Gestalten formten.
Einer arbeitet großformatig, mit ausholender Geste in klassischem Stil. Gesicht und Geschlecht des Modells sind kaschiert, teilweise ist die Darstellung etwas beschönigend. Ein anderer bevorzugt kleinere Formate, zeichnet pedantisch, hyperrealistisch mit einem dünnen Filzstift. Unser behaartes männliches Modell bekommt dicke, kleine Borsten auf Rücken und Schultern. Die fertigen Skizzen wirken lebensnah, modern und auf faszinierende Art beklemmend. Ein dritter Mitstudent tönt erst einmal das ganze Blatt bleistiftgrau und arbeitet dann mit Hilfe eines Radiergummis die Muskeln, Sehnen und Glieder des Modells mit gespenstischen, breiten, weißen Strichen heraus. Die Figur scheint aus dem Schatten auf den Betrachter zuzutreten.
Ich habe versucht, ihre Methoden zu kopieren, zu experimentieren, spielerisch weiterzukommen, immer mit demselben, frustrierenden Ergebnis: Kopfschmerzen, Kribbeln in den Schultern, trockene Augen von dem kleinen Heizlüfter des Modells und ein angeschlagenes Selbstbewusstsein. Schon oft wäre ich am liebsten hinter dem Wandschirm des Modells in der Ecke verschwunden, um mich unter den karierten Decken, die dort liegen, zu verstecken. Manchmal verwendet Pol Pot diese Decken als Referenzpunkte für uns Studenten.
Es ist wirklich nicht übertrieben zu sagen, dass ich kaum etwas zustande bekomme. Meine Skizzen sind zwar nicht vollkommen inkorrekt, aber Winkel, Rundungen und Schatten haben immer etwas Übertriebenes, Steifes, fast Furchteinflößendes. Als würde ich eine Wachsfigur und keinen lebendigen, warmen Körper zeichnen.
Als das halbe Semester vorüber ist, gehen Pol Pot und ich gemeinsam meine gesamte Produktion durch. Ein trauriger Stapel Skizzen in einer fleckigen Plastikhülle. Eine mittelmäßig begabte Elfjährige würde es besser hinkriegen.
Pol Pot kratzt sich den Bart und nimmt mich mit auf den Korridor, der an einem Ende auf einen windigen Absatz und von dort auf eine Feuertreppe führt. Er öffnet die Tür und schiebt sich mit unerwarteter Geschmeidigkeit hinaus in den pfeifenden Wind. Ich folge ihm. Draußen im Schneeregen, im Schutz des Dachfirsts, rollt sich mein Lehrer ein wenig umständlich eine Zigarette. Ich lehne mich an das verzinkte Geländer und schaue auf einen heruntergekommenen Pub und hinter einer Mauer mit Stacheldraht auf eine Privatschule. Trotz des Abstands und des starken Winds meine ich, das abgestandene Bier der leeren Bierfässer unter mir zu riechen. Pol Pot schüttelt bekümmert den Kopf und sagt:
»Das ist ganz einfach nicht Ihre Disziplin. Niemand kann Ihnen den Vorwurf machen, es nicht versucht zu haben. Aber mittlerweile bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir einfach nur Ihre Zeit verschwenden, wenn wir es weiter versuchen. Denn Sie finden doch wohl auch nicht, dass das hier sonderlichen Spaß macht?«
Ich sehe vermutlich genauso verwirrt und enttäuscht aus, wie ich mich fühle. Nein, es macht keinen Spaß, aber schließlich kann nicht alles Spaß machen, oder?
Pol Pots Augen funkeln, als hätte er gerade einen Einfall. Er sieht mich verschmitzt an, klemmt sich die Zigarette zwischen die Lippen und zieht einen Bleistiftstummel und ein Stück zusammengefaltetes Pauspapier aus der Gesäßtasche.
»Maja«, sagt er. »Tun Sie mir einen Gefallen. Zeichnen Sie ein Fahrrad. Aus dem Gedächtnis.«
Ich brauche genauso lang wie er zum Rollen, Anzünden und Rauchen einer weiteren Zigarette. Einige Male muss ich innehalten und mir ein Fahrrad vorstellen, die Konstruktion, wie der Rahmen mit der Kette und den Rädern verbunden ist. Die Zeichnung wird recht einfach und recht schief. Ich weiß nicht genau, wie eine Fahrradkette aussieht, und zeichne eine stilisierte Zickzackschleife, die, wie ich finde, halbwegs glaubwürdig wirkt.
Pol Pot streckt die Hand aus, bekommt sein Papier zurück und betrachtet mein Gekritzel eingehend.
»Hm … jaha, ja«, sagt er dann. »Wie ich es mir gedacht hab.«
»Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht«, erwidere ich und widerstehe dem Impuls, an seinem Bleistiftstummel zu kauen.
»Es verhält sich folgendermaßen. Meiner Erfahrung nach gibt es zwei Arten von Illustratoren«, erklärt Pol Pot. »Diejenigen, die lieber nach Modell oder sogar nach Fotos zeichnen, zumindest nach einer konkreten Vorlage, und diejenigen, die lieber aus dem Gedächtnis arbeiten. Die Werke der zweiten
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