Abschiedskuss
Augenblick mitkommen?«
Ich erhebe mich erstaunt und folge ihm in ein kleines Nebenzimmer, zu dem nur er einen Schlüssel besitzt. Dort steht ein Schreibtisch mit einem Telefon, an der Wand hängen ein Haken mit einem Kleiderbügel für seinen Mantel und eine Pinnwand.
»Setzen Sie sich«, sagt er und deutet auf einen kleinen Hocker. »Ich wollte Ihnen nur ein paar Worte unter vier Augen sagen, außer Hörweite Ihrer Kommilitonen. Ich freue mich sehr über Ihren Durchbruch. Ich war etwas besorgt, verstehen Sie, schließlich haben Sie im Herbst sehr vorsichtig angefangen …«
Er unterbricht sich plötzlich und fasst mich an der Schulter.
»Alles in Ordnung? Maja, was ist los, wollen Sie sich einen Augenblick hinlegen? Soll ich ein Glas Wasser holen?«
Aber ich kann nicht antworten. Ich habe kaum gehört, was er gesagt hat. Wie gebannt starre ich auf zwei kleine Dinge, die an der Pinnwand über dem Schreibtisch des Professors hängen. Ich bin schockiert.
Dunkle Schatten tanzen vor meinen Augen, und ich presse meine Hand an den Mund. An seiner Pinnwand hängt ein kleines Foto, kaum größer als eine Briefmarke. Es ist aus einem größeren Foto herausgeschnitten worden, einem Foto, das ich schon einmal gesehen habe. Jenes Foto der vier lächelnden jungen Frauen, die beim Massaker von Mill Creek Manor ums Leben kamen.
Obwohl ich schwanke, gelingt es mir doch, mich zu erheben. Mit meiner freien Hand halte ich den Professor auf Abstand. Aus dem Augenwinkel sehe ich noch, wie er versucht, mir den Papierkorb hinzuhalten. Er scheint zu glauben, ich müsse mich übergeben. Ich sehe ihn nur undeutlich wie hinter einer Glasglocke. Er sagt etwas, aber ich sehe bloß, wie sich die dunkle Öffnung seines Mundes bewegt, höre nichts als ein gedämpftes Murmeln.
Die Frau auf dem Foto ist die tote Frau in meiner Badewanne. Emma Isherwood.
Der andere Gegenstand ist eine Miniatur, die direkt auf ein Stück Holz gemalt ist. Ein Stück Treibholz. Es lehnt, auf zwei lange Reißnägel gestützt, neben dem Foto an der Pinnwand. Wie eine Reliquie.
Die Frau auf diesem Porträt bin ich. Genauer gesagt eine fünfundzwanzig Jahre ältere Version meiner selbst. Ich taumele gegen die Tür, flüchte vor Chesterfields ausgestreckten Händen, die nach mir greifen wollen. Ich begreife eigentlich nur, dass ich von ihm fortmuss und dass ich sie jetzt gefunden habe. Ich habe die Verbindung zu Mama gefunden.
24. Kapitel
Am einzigen Studientag des Herbstsemesters fahren Nikita, Ashley und ich mit dem Zug nach London, um uns ein paar Kunstwerke anzuschauen. Ich verkrieche mich in meinem Sitz, den Kopf gesenkt und den Kragen hochgeklappt, so dass die Hälfte meines Gesichts verdeckt ist. Nikita und Ash glauben vermutlich, dass ich die halbe Fahrt verschlafe, da ich sehr wenig sage. Dafür denke ich umso mehr nach. Es sind sorgenvolle, ängstliche Gedanken, die herumirren, miteinander kollidieren.
Wo kommt all die Dunkelheit her, und wer verbirgt sich darin? Diese entsetzlichen Schattenwesen, die mich nicht in Frieden lassen, die sich an mich klammern, mir alte Geheimnisse zuflüstern, von denen sie selbst kaum wissen?
Was sind das für Ströme und Kräfte, die mich hierher getragen haben und die mich mit diesen Schattenwesen allein lassen?
Und wer ist dieser lebendige Schatten, der mir ständig ausweicht? Den ich nicht zu fassen bekomme? Der um eine Ecke verschwindet und mit seinem scharfen Messer vom Dunkel verschluckt wird.
Ein Minibarverkäufer schiebt seinen klappernden Wagen durch den Mittelgang und unterbricht meinen wirren Gedankenstrom. Ashley hält ihn an und kauft Tee in einem Styroporbecher. Ich schaue aus dem Fenster und blinzele hinüber zu den Ufo-ähnlichen Betontürmen eines Kraftwerkes, das mitten in die idyllische Landschaft rings um Oxford gebaut ist.
Auf dem Platz neben mir, tief vergraben in meiner Tasche, liegt immer noch das in einen Slip gewickelte Messer. Ist es dasselbe Messer, mit dem Mama getötet wurde? Ist es das Messer, das die Wahrheit kennt? Oder ist es nur … irgendein Messer? Nachlässig in der Wäsche meiner Zimmergenossin versteckt? Ist es das scharfe Messer, das Jack Winter verloren hat? Ein stechendes Unbehagen überkommt mich. Wenn ich an Jack denke, habe ich das Gefühl zu fallen, obwohl ich sitze.
Vielleicht nicke ich ja doch eine Weile ein. Ich sehe einen Mann vor mir, wenn ich die Augen schließe. Einen Mann, der in einem Meer aus Frauenkörpern ertrinkt. Runde Hüften wogen um ihn herum. Ein
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