Abschiedskuss
nach Tee duften, Tee weinen, Tee schwitzen und Tee bluten.
»Oh ja, vielen Dank«, sage ich und nippe an dem heißen Getränk. Dennoch muss ich immer wieder zu Zimmer 45 hochschauen. Ash entgeht das nicht.
»War da noch mehr? Von … ihr?«, will er wissen.
»Oh Ash. Weiß der Teufel, was los ist«, seufze ich und werde im selben Moment von einer quälenden Rastlosigkeit ergriffen.
»Komm«, sage ich dann und stehe abrupt auf. »Kommst du mit in die Stadt? Dann erzähle ich dir alles.«
Die Oxforder Markthalle ist in schwefelfarbenes Halblicht getaucht. Die größeren Stände haben Strahler, die Würste, Pies und Hummer in künstlichen Sonnenschein tauchen. Beim Metzger hängen – geköpft und tropfend – ein Wildschwein, zwei Fasane und drei Kaninchen von der Decke. Eine Touristin bleibt stehen und verzieht angeekelt das Gesicht, während ihr Freund mit seinem riesigen Kameraobjektiv den Durchgang versperrt und sich kein bisschen darum schert, dass er alle am Weiterkommen hindert. Die stämmigen Frauen der Stadt bahnen sich routiniert ihren Weg durch das Gedränge, vorbei an den schönen, altertümlichen Ladenschildern und der Goldbrezel des Bäckers.
Ein Gemüsehändler streicht über seine Birnen, als wären es die Wangen seiner neugeborenen Tochter. Er rückt eine Kiste mit Obst und ein paar Sträuße glatter Petersilie zurecht. Alle Preise beziehen sich auf das englische Pfund oder Unzen. Diese sturen Inselbewohner weigern sich, das metrische Einheitssystem zu verwenden, obwohl das Gesetz es vorschreibt.
Ein wenig abseits der Lebensmittel und der Blumen gibt es einen Schuster, ein Reformhaus und ein paar exklusive Boutiquen. Im Vorbeigehen sehen wir die Markennamen in den Schaufenstern. Hunter, Barbour, Henri Lloyd. Seidentücher mit Steigbügelmuster.
Ich bilde mir ein, Rupert Davenport-Smythes sonnengebleichtes Nackenhaar in einem der Läden zu sehen. Ich habe den Eindruck, dass er mich ebenfalls sieht, zusammenzuckt und eilig wegschaut.
Ashley kauft einen kleinen Pie mit Makrelenfüllung, und ich darf abbeißen. Es schmeckt rauchig, mehlig und angenehm. Er deutet auf den rotweiß gestreiften Stab über der Ladentür eines Barbiers, der so dick ist wie mein Arm.
»Weißt du eigentlich, warum die Friseure diese Erkennungsfarben haben?«, fragt Ash.
Ich schüttele den Kopf.
»Früher waren die Barbiere auch die Chirurgen der Stadt«, antwortet er. »Rot und weiß im Wechsel. Blut und Verband.«
Eine Weile lang laufen wir schweigend und jeder in seine Gedanken versunken weiter.
Schließlich gebe ich mir einen Ruck. »Du«, sage ich und schlucke, »ich wollte dir doch etwas erzählen. Da war noch mehr.«
»Noch mehr als diese Irrlichter?«, fragt Ashley. »Hat es wieder was mit deiner Mutter zu tun?«
»Ich glaube schon«, sage ich. »Ich glaube, das ist sie wieder.«
»Hast du sie etwas gefragt?«, will Ash mit großen Augen wissen.
»Nein«, sage ich und bleibe stehen. Ein Passant stößt beinahe mit mir zusammen, und jemand flucht in meine Richtung, als er an mir vorbeieilt.
»Aber da du mich jetzt auf die Idee gebracht hast, will ich es nächstes Mal versuchen.«
In der darauffolgenden Woche mache ich eine Entdeckung, die mein Leben verändert: Von nun an werde ich mit Tuschfeder zeichnen. Immer. All meine Bleistifte, Kreiden und Filzstifte kann ich guten Gewissens in den Papierkorb werfen, denn es zeigt sich, dass nur hauchfeine, empfindliche Federn in Kombination mit wasserfester Kandahar-Tusche meinen Figuren jenes wilde Temperament verleihen, das sie von Kritzeleien in etwas Außergewöhnliches, Lebendiges und sofort als mein Werk Identifizierbares verwandelt.
Professor Chesterfield wird mein Mentor. Denn er ist es, der sich an einem grauen Tag im Zeichensaal über meine Bank beugt und einen Laut des Entzückens ausstößt. Der Professor deutet aufgeregt auf einen winzigen, runden Satyr mit nacktem Po am Rand eines großen Blatts. Eigentlich gehört diese Figur gar nicht dort hin. Auf dem Bogen finden sich einige ehrgeizige Versuche zu drei Vignetten. Von Luft umrahmte Skizzen ohne Hintergrund, die nur von ihren eigenen Außenlinien begrenzt werden. Unsere Aufgabe war, uns etwas zum Thema Märchen einfallen zu lassen.
Bei dem kleinen Dämonen am Rand handelt es sich nur um ein Formexperiment, eine Aufwärmübung, wie der Professor sagen würde. Eine Kritzelei würde ich es nennen. Chesterfield schließt mein kindisches Männchen, das ich eigentlich wegradieren wollte, jedoch sofort
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