Abschiedskuss
ins Herz. Er zieht sich einen Stuhl heran, setzt sich zu mir und nimmt die anderen Studenten im Zeichensaal gar nicht mehr wahr.
»Die sind jetzt egal«, meint er und deutet auf meine Märchenvignetten. »Jetzt kümmern wir uns mal um diesen Burschen. Er hat echtes Charisma, sehen Sie das denn nicht?« Chesterfield klopft vorsichtig mit dem Zeigefinger aufs Papier, darauf bedacht, meine Linien nicht zu berühren und versehentlich zu verwischen.
Unter der aufmerksamen Anleitung des Professors muss ich die Figur immer wieder zeichnen. Er sagt, ich solle so lange üben, bis ich einen fast unbewussten Zustand erreicht hätte, in dem ich die Figur gewissermaßen automatisch zeichnen könnte.
Ich fülle einen großen Bogen mit immer derselben kleinen Figur, und er zeigt mir besonders geglückte Striche, die mir oft rein zufällig gelungen sind. Ein besonderer Winkel des einen Beines dort, ein schöner Schwung des Schwanzes dort.
»Versuchen Sie, den Blick wieder so schelmisch zu zeichnen, ich glaube, das hat etwas mit dem Augenwinkel bei der Figur rechts oben in der Ecke zu tun. Wissen Sie, dieses kleine teuflische Wesen hat wirklich das gewisse Etwas. Sie sind, was die Charakterisierung betrifft, unglaublich begabt.«
Mir wird bewusst, wie wichtig bei meinem minimalistischen Zeichenstil jedes Detail ist. Jede Linie, jeder winzige Strich muss sehr viel zum Ausdruck bringen. Ich verstehe nun auch, wie ein hauchfeiner Federstrich oder die Position des Auges den Charakter eines Gesichts vollkommen verändern kann: Mal wirkt es frech auf den Betrachter, mal nachdenklich, mal gemein.
Chesterfield stellt mir verschiedene Zeichengeräte zur Verfügung, mit denen ich experimentieren soll. Er ist ganz entzückt, als sich zeigt, dass ich eine instinktive Begabung für Feder und Tusche besitze. Sieh mal an. Plötzlich gehorcht die Hand.
Die Finger verstehen, was der Kopf will. Nein, mehr als das, die Finger veredeln die Vision des Gedankens. Ich bin Herrscherin über eine Feder. Der dünne Stahl will sich von mir kontrollieren lassen. Jede Faser des Papiers ist auf meiner Seite. Die Tusche im Fass scheint von vornherein zu wissen, wie lang und dick die Linie werden soll, die ich zeichnen will. Die richtige Anzahl Tropfen sammelt sich in der Vertiefung der Feder. Ich bin hier und gleichzeitig auch wieder nicht. Ich verschmelze mit der Linie, dem Papier, mit meiner Figur.
Dort, wo die Feder auf besonders viel Widerstand stößt, gerät das Schwarz der Tusche zu ausdrucksvollen kleinen Spritzern. Es ist ein phänomenaler Zeichengrund, den ich Nikita zu verdanken habe. Sie hat mir genau dieses Papier empfohlen, eine Qualität und Preisklasse, die ich mir nie zuvor gegönnt hatte, die aber, das verstehe ich jetzt, entscheidend zum Ergebnis beiträgt. Die Technik ist mit einem gewissen Nervenkitzel verbunden, sie ist unkontrollierbar und lebendig, etwas, was ich von Ashleys Beschreibung seiner Arbeit mit Aquarellfarben kenne.
Während wir uns derart konzentrieren, verschwimmt alles um uns herum, nur Chesterfield, ich und meine Hand, die das ungewohnte Werkzeug immer sicherer hält, sind gegenwärtig. Meine kleine Figur erwacht nach und nach zu einer richtigen Persönlichkeit.
»Hier«, sagt er und deutet auf zwei kleine Dämonen unter etwa fünfzig weiteren Figuren. Er wirkt froh und glücklich, genau so, wie ich mich fühle.
»Und dort. Sehen Sie? Dieser hier hat etwas Besonderes, Maja. Es gefällt mir, dass Sie den Fuß so klein und rund gezeichnet haben im Unterschied zu dem kräftigen Bein. Das lässt ihn wie ein zu Streichen aufgelegtes Kind erscheinen. Verstehen Sie jetzt, wie Sie arbeiten müssen? Aktiv, so dass Sie Ihre gesamte Energie in diesen kleinen Körper packen und sich vollkommen in ihn hineinleben. Denn nur dann löst er Gefühle beim Betrachter aus. Geben Sie sich nie zufrieden, zeichnen Sie, und zeichnen Sie wieder, bis es Ihnen gelingt. Und damit meine ich nicht, anatomisch gelingt, sondern ich meine dieses magische fünfte Element, das sich nicht beschreiben lässt: dieses gewisse Etwas, wenn eine richtig gute Illustration einfach … stimmt.«
Ich würde ihn am liebsten umarmen, begnüge mich aber damit, ihn breit anzulächeln. Fühlt sich ein Durchbruch so an? Meine Zeichenhand verkrampft sich vor Anspannung, und ich versuche sie mit kleinen, rollenden Bewegungen zu lockern.
»Jaja«, sagt der Professor. »Manchmal tut es weh. Aber was von Wert sein soll, kostet eben etwas Mühe. Könnten Sie einen
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