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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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starker Schenkel umschlingt seine Taille. Ich sehe keine Gesichter, nur das wirre Haar verschiedener Frauen. Kastanienfarbene Locken, hennarote Wellen und kurzes, zerzaustes Platinblond. Der Mann ist Leopold Chesterfield.
    Meine Mutter. Sie besitzen das Porträt meiner Mutter. Woher kannten Sie meine Mutter?
    Im Traum kann ich ihn fragen, was ich in seinem kleinen Büro nicht über die Lippen brachte. Der Schock, mit den Bildern über seinem Schreibtisch konfrontiert zu werden, war zu groß, mein Bewusstsein entgleiste, und ich ergriff die Flucht.
    Jetzt sieht er mir starr und hilflos in die Augen, aber er scheint mich nicht zu hören. Um ihn herum nackte, sich regende Frauenglieder.
    Und Emma Isherwood? Sie besitzen ein Bild von Emma Isherwood? Die 1984 im Mill Creek Manor gestorben ist, sie und ihre drei Freundinnen.
    Emma war schwanger. Warum haben Sie ein Bild von ihr aufgehängt, das Sie jeden Tag sehen?
    Jetzt hört er mich. Jetzt versucht er, etwas zu sagen. Schmale, gespreizte Hexenfinger heben sich und packen sein Gesicht. Wollen ihn nach unten ziehen. Er spricht mit schwacher, angestrengter Stimme.
    »Emma und ich waren zusammen. Sie ist Arabellas Mutter … oder … hätte es werden sollen … es war Emmas Abschiedsfest … wir wollten zusammenziehen … Kinder haben … sie hatten unser kleines Mädchen retten können … Aber Emma war bereits tot.«
    Was geschah? War es Gift? Wer hat die Flasche geöffnet?
    »Das war nur zum Spaß … hatten Absinth in die Flasche gefüllt … ich trank auch und die anderen Jungs … Emma war die erste, der es schlecht ging … Krankenwagen, ich hielt ihre Hand … zwei weitere Mädchen im Laufe der Nacht, in ihren Betten … die letzte im Frühstückssaal am nächsten Morgen … niemand konnte etwas dagegen tun …«
    Seine Stimme entfernt sich immer weiter, und ich kann nicht mehr erkennen, ob sich seine Lippen bewegen.
    Was geschah? War es Gift? Sie müssen es mir sagen, wenn Sie es wissen.
    »Weiß nicht … fast so wie eine … Kontamination … einer der Medizinstudenten hatte eine Theorie … aber wir haben nie etwas erfahren …«
    Und meine Mutter? Woher kannten Sie meine Mutter?
    Eine der gesichtslosen Frauen versucht Chesterfield zu küssen, und ihr Mund verschluckt das meiste von dem, was er sagen will, aber ich schnappe ein paar Brocken auf, die klingen wie:
    »Nicht hier. Nicht jetzt.«
    Ich schrecke auf. Nikitas Hand liegt auf meinem Arm. Der Zug wird langsamer.
    »Wieder Albträume«, murmelt sie.
    Ich nicke nur.
    London ist bereits weihnachtlich geschmückt, und ein kühler Wind, der nach Schnee riecht, dringt durch die Abgase. Die Bäume der Exhibition Road, der Allee, an der die prächtigen Nationalmuseen Seite an Seite liegen, sind mit Tausenden von kleinen Lampen dekoriert, die wie Goldpailletten in den nackten schwarzen Ästen funkeln.
    Vor dem Science Museum hat man eine Schlittschuhbahn aufgebaut, auf der Paare zu klassischer Musik ihre Kreise drehen. Die roten Doppelstockbusse, die mit ziemlichem Tempo die Straße entlang brausen, sind voller Touristen, die staunend die Augen aufreißen. Sie deuten aus den Fenstern und rufen vermutlich »Schau mal«, »Super« und »Irre!« in ihren verschiedenen Sprachen.
    Wohlhabende ältere Damen schieben sich in geräumige schwarze Taxis. Sie haben exklusive Einkaufstüten aus Papier mit geflochtenen Tragegriffen von Harrods und Harvey Nichols oder – in leuchtendem Gelb – von Selfridges.
    Wir schlendern durch die winterblaue Luft am Natural History Museum vorbei. Auf dem schönen Innenhof gibt es einen Weihnachtsmarkt, dem wir nicht widerstehen können. Es riecht nach gerösteten Maroni, und die Hitze schlägt uns ins Gesicht, obwohl wir noch mehrere Meter entfernt sind. Kinder mit vom Frost rosigen Wangen lutschen genussvoll an Pfefferminzstangen. Der süß-würzige Duft von Glühwein breitet sich über dem Bürgersteig aus, und Nikita schnuppert wie ein fröhlicher kleiner Hund.
    Das Victoria & Albert Museum hat hübsche Plakate an jeden Laternenpfahl vor dem Eingang gehängt, mit denen es für eine Sonderausstellung zum Thema festliche Kleidung in früheren Zeiten wirbt. Als wir vorbeigehen, werfe ich einen Blick hinein. Im Entree steht ein tiefgrüner, drei Meter hoher Weihnachtsbaum, der mit Prismen und Schneekristallen aus Glas behängt ist. Wenn wir mehr Zeit hätten, würde ich gerne hineingehen.
    Ich muss Tate Britain und Tate Modern verwechselt haben, vielleicht war mir auch gar nicht klar, dass

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