Abschiedskuss
Maja?«
»Natürlich, Insp… Steve.«
Ich höre, dass er tief seufzt.
»Es ist sehr wichtig. Sie müssen dafür sorgen, dass Sie bis zu meinem Eintreffen in Gesellschaft anderer sind. Ich will unter keinen Umständen, dass Sie allein sind. Oder nur in Gesellschaft einer einzigen Person.«
Auf dem Weg aus dem Büro fällt mein Blick auf einen offenen Werkzeugkasten auf dem Fußboden. Ein Schraubenzieher mit gelbem Griff fesselt meine Aufmerksamkeit. Ohne dass ich weiß, wie, liegt er plötzlich in meiner Hand, glänzend und überraschend schwer. Er fühlt sich gut an.
»Danke, Errol. Den hier borge ich mir aus«, sage ich leise und schiebe das Werkzeug in die Tasche meines Morgenmantels, während ich an ihm vorbeieile. Er steht mit dem Rücken zu mir und befestigt etwas am Schwarzen Brett. Ich glaube nicht, dass er mich gehört hat.
Die Morgensonne sickert in den Korridor, und ein milder Schimmer legt sich auf die unzähligen verschlossenen Türen. Bald wird ganz Mill Creek Manor erwachen. Ich stehe vor unserer Tür und starre auf die angeschraubten, blanken Messingziffern, auf denen ein glitzernder Sonnenstrahl reflektiert. Nummer 45. Es sieht aus, als würden die Zahlen brennen.
Der Gürtel meines Morgenmantels hat sich gelöst, aber das ist mir gleichgültig. Ich trage nur ein großes T-Shirt drunter. Ein kalter Luftzug streicht mir um die nackten Knie. In einem anderen Gang muss ein Fenster offen stehen, denn ich habe den Geruch von Winterluft in der Nase und höre irgendwo in der Ferne kleine Vögel zwitschern. Gut. Die Kälte sorgt für einen klaren Kopf.
Ich wiege den Schraubenzieher in der Hand. Spiele fast mit ihm. Hinter der Tür schläft wahrscheinlich immer noch Nikita. Ich denke darüber nach, wie schwierig, ja unmöglich es ist, Steve Kings Wunsch nachzukommen. Im Augenblick bin ich allein. Wenn ich zu Nikita reingehe, bin ich ebenfalls allein – mit einer anderen Person. Er kann doch wohl nicht meinen, dass …
Wieder höre ich die kleinen Vögel. Jetzt klingt es jedoch eher wie fernes Frauenlachen. Weiche Stimmen, mehr als zwei. Fröhliches Geplauder. Drei Frauen. Nein, vier. Sie kommen näher.
Aber ich schaue mich nicht um. Das ist unnötig. Ich weiß, dass sie nicht da sind. Nicht mehr.
Mama, komm. Bitte. Hilf mir. Ich bin so dicht dran. Ich spüre es. Hilf mir, bitte. Dann werde ich versuchen, auch dir zu helfen. Ich werde tun, was immer du von mir verlangst.
Und sie kommt. Der Maiglöckchenduft durchdringt mich von innen, er steigt in mir auf, quillt hervor und lässt meine Augen tränen.
Sie ist hier. Sie ist bei mir. Sie ist, wie sie war. Ihre Hände heben vorsichtig mein Haar in meinem Nacken. Es sind keine steifen, kalten, rauen und toten Hände mehr. Sie sind weich, warm und voller Zärtlichkeit. Ich beuge den Kopf wie im Gebet, und ich erinnere mich. So konnte sie auch sein. Nicht oft. Aber sie konnte.
Sie beugt sich vor und drückt ihre Nase an meinen Hinterkopf. Ich sehe sie nicht, aber habe das Gefühl, dass sie mein Haar begutachtet, es bewundert, sich daran erfreut. Wir sind jetzt gleich groß. Nein. Wir wären gleich groß. Ich kann nicht aufschauen, will nicht, dass dieser Augenblick vorübergeht. Meine Tränen fließen ungehindert, und ein entlegener, vernünftiger Teil meines Bewusstseins merkt, dass die Vorderseite meines T-Shirts feucht wird.
»Was …?«, bringe ich leise schluchzend über die Lippen. »Was soll ich tun?«
Ein gedämpftes Pst! neben meinem Ohr. Vielleicht ist es aber auch nur das Sausen des Windes.
Dann nimmt sie meinen Hinterkopf mit beiden Händen und rückt ihn gerade. Stützt meinen Kopf. Das ist himmlisch, ich wünschte, sie würde mich immer so halten, denn mein Kopf kommt mir viel zu groß und schwer vor für meinen dünnen Hals. Aber sie lässt los. Als sie ihre Hände fortzieht, hält sich die Erinnerung an ihre Berührung wie ein zarter Hauch auf meiner Haut.
Ich atme tief ein. Meine Nase ist nicht mehr verstopft, und mein Weinen ist verebbt. Der Duft von Maiglöckchen ist ebenfalls verschwunden. Ich rühre mich nicht von der Stelle und blinzele ins Licht. Mein Blick landet wieder auf den Messingziffern an der Tür. Nummer 45. Dann bemerke ich einen schweren Gegenstand in der Tasche des Morgenmantels und erinnere mich an den Schraubenzieher.
Die Vier lasse ich in Ruhe. Stattdessen konzentriere ich mich auf die Fünf. Mit rasender Energie mache ich mich an den kleinen Schrauben zu schaffen. Die Messingzahl fällt zu Boden. Ich lasse
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