Abschiedskuss
Bitte um Hinweise untergekommen, die wir auf Ihren Wunsch hin noch einmal überall in Brighton verteilt hatten. Und, nun ja, er kann sich an den Mordabend erinnern. An eine Person mit langem, flatterndem Haar, die er kurz vor dem Wolkenbruch vom Pier verschwinden sah.«
»Das könnte eine unschuldige Passantin oder auch ein Passant gewesen sein«, wende ich ein.
»Natürlich«, sagt King und verbirgt ein Lächeln hinter der Hand. »Entschuldigen Sie, aber Sie klingen fast schon wie eine Ermittlungsbeamtin. Die Sache ist nur die, dass die Beschreibung auf keine der Personen passt, von denen wir wissen, dass sie sich zum fraglichen Zeitpunkt in der Nähe des Piers aufgehalten haben. Natürlich kann es auch ein Mann mit langen Haaren oder einer Perücke gewesen sein. Jemand, der sich verkleidet hat, um uns in die Irre zu führen. Leider können wir mit dieser Information im Augenblick nicht mehr anfangen, aber sie ist dennoch interessant.«
»Okay. Ich verstehe. Bleiben Sie noch zur Vernissage?«, frage ich.
»Nein danke«, erwidert der Inspektor und lächelt erneut. »Ich hätte große Lust, aber ich muss so schnell wie möglich nach Hause. Der Kleine hat wieder Fieber.«
»Der Ärmste«, sage ich. »Aber, Steve, apropos Fieber. Es gibt noch einen Punkt, über den ich mich gerne mit Ihnen unterhalten würde, und der betrifft das Massaker von Mill Creek Manor.«
»Und?« Die tiefe Falte zwischen seinen Brauen ist wieder da. Er beugt sich aufmerksam vor, als wolle er sich keines meiner Worte entgehen lassen.
»Ich weiß, dass sich nichts beweisen lässt«, beginne ich zögernd, »aber ich habe ein sehr deutliches Gefühl oder wie man das nennen soll. Etwas, das für die Familien der Toten vielleicht von Interesse sein könnte … um die Sache zu einem Abschluss zu bringen.«
»Sagen Sie mir, was Sie denken«, fordert mich Steve auf und nickt aufmunternd.
»Ich glaube nicht, dass etwas Unrechtmäßiges geschehen ist«, sage ich. Der Pullover auf meiner Haut fühlt sich plötzlich ganz eisig an. »Auch nichts Übernatürliches. Ich glaube, das Ganze war ein unbeschreiblich trauriges Unglück.«
»Sprechen Sie weiter«, ermahnt mich King.
»Okay«, sage ich und reibe meine Hände in der Hoffnung, dass sie warm werden. »Es gab damals nur Gemeinschaftswaschräume auf jeder Etage, einen für Damen und einen für Herren. Ich vermute, dass durch ein Leck des Heißwasserboilers Feuchtigkeit in die Lüftung des Damenwaschraums im obersten Stockwerk des Nordflügels eindrang. Die einzigen Studentinnen, die dort oben wohnten, waren Joanna, Mary, Harriet und Emma. In der Feuchtigkeit entstanden gefährliche Bakterien, die durch das Gebläse dann in den Waschraum gelangten. Ein unsichtbarer, tödlicher, ständiger Nebel direkt ins Bad der Damen. Deswegen erkrankten auch die Polizistinnen. Weil sie dasselbe Bad benutzten, wenn sie zur Toilette mussten. Ich glaube, dass Joanna, Mary, Harriet und Emma an einer schweren Form der Legionärskrankheit gestorben sind. Offenbar führt sie in den schlimmsten Fällen innerhalb weniger Stunden zum Tod.«
Inspektor King schweigt und wiegt seinen Kopf hin und her.
»Wie grauenhaft«, sagt er schließlich. »Wir werden es zwar nie erfahren, aber es klingt nicht unwahrscheinlich … mein Gott, wie grauenhaft! So unnötig. So verdammt sinnlos.«
Eine Weile lang fürchte ich, er könnte gleich anfangen zu weinen. Wir bleiben eine oder zwei Minuten sitzen, dann erhebt er sich und reibt sich die Augen. Ich höre, wie seine Knie knacken.
Er streckt die Hand aus, und im ersten Augenblick denke ich, er will mir den Kopf tätscheln wie einem kleinen Mädchen. Aber nach kurzem Zögern fasst Steve King meine Schulter und drückt sie.
»Okay«, sagt er, und seine Stimme klingt etwas mitgenommen. »So viel für heute. Wir bleiben in Kontakt. Sobald ich mehr über Ihre Mutter in Erfahrung gebracht habe, lasse ich von mir hören. Passen Sie auf sich auf, Maja.«
»Danke«, erwidere ich. »Sie auch.«
Meine Gedanken stieben lose auseinander, als ich durch die Dämmerung über den Kiesplatz zur erleuchteten Ausstellungshalle laufe.
Ich habe es eilig. Alle Lampen brennen, alles überflüssige Material ist weggeräumt. Jack Winter hat sich ein sauberes Hemd angezogen und die drei obersten Knöpfe offen gelassen. Die anderen Studenten haben sich ebenfalls umgezogen, ihre Unterhaltungen klingen erwartungsvoll gespannt. Die Mädchen haben Eyeliner aufgetragen, und einer der jungen Männer trägt einen
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