Abschiedskuss
Lachen dringt nicht bis zu den Augen. »Warst du denn nie eifersüchtig? Hast du nie dumme Sachen gemacht?«
»Nein«, antworte ich. »Man muss mich doch nur ansehen. Ich weiß verdammt noch mal kaum, wie man lebt.«
Als ich die Glastüren öffne, warten bereits ein paar erwartungsvolle Besucher davor. Meine Haltung ist aufrecht und mein Lächeln vollkommen echt. Ich genieße das, denke ich. Die Verantwortung, den Studenten der Abschlussklasse zu einem gelungenen Abend zu verhelfen. Ich könnte mit allen hier Anwesenden über alles sprechen.
Die Vernissage rauscht dahin wie ein schäumender Wasserfall aus Lächeln, klirrenden Gläsern und einem Wirrwarr aus Haaren und gestikulierenden Händen. Ich selbst befinde mich mitten im Strom. Ich surfe gewissermaßen auf der Energie, und als ich endlich Gelegenheit finde, mich von einem redseligen Londoner Redakteur mit etlichen Silberringen im Ohr loszureißen und mein Serviertablett einem andern in die Hand zu drücken, verschwinde ich rasch auf die Damentoilette. Nicht um zu pinkeln, sondern um einen Blick auf mich im Spiegel zu erhaschen.
Es ist, wie ich es mir gedacht habe. Ich bin eine andere. Eine bessere und selbstsichere Person mit Mundwinkeln, die permanent nach oben zeigen. Der Chiffon umhüllt meine Beine wie Nebel, und ich bemerke, dass ich fast eine Schönheit bin. Ich schaue rasch weg und verlasse den Raum mit energischen Schritten. Vielleicht, weil ich befürchte, der Zauber könne verfliegen, wenn ich länger bleibe.
Irgendwann nimmt das Fest anarchischere Formen an, und weitere Studenten werden gebeten, beim Ausschenken der Getränke mitzuhelfen. Ich finde Ashley und Nikita im Gewimmel, jemand dreht die Musik auf. Die prominenten Gäste verschwinden nach und nach, und die ausgelassene Stimmung steigert sich ins Rauschhafte, als weiterer Wein aus dem Keller geholt wird.
»Stopp«, sage ich und packe meine beiden angetrunkenen Freunde fest an ihren Jacken. Sie bleiben in der nachtdunklen Gasse stehen. Wir sind im Begriff, taumelnd eine feucht-glatte Abkürzung zu nehmen, die von einem schmalen Durchgang unter der Seufzerbrücke im Zentrum durch ein paar gewundene Gassen zum Mill Creek Manor führt. Wenn man den Durchgang, der wie ein Mauseloch in der Fassade an der dunkelsten Stelle genau unter der Brücke liegt, nicht kennt, hat man kaum eine Chance, ihn zu finden.
Ich bin recht betrunken, aber eines weiß ich.
»Ich kann mich keine Minute mehr auf den Beinen halten, wenn ich nicht etwas zu essen bekomme«, sage ich mit Nachdruck.
Wir gehen in einen kleinen Laden, der rund um die Uhr geöffnet hat und ein paar Straßen vom Mill Creek Manor entfernt liegt. Der Laden besteht eigentlich nur aus zwei Gängen mit hohen Regalen, arabischer Musik, die aus einem scheppernden Lautsprecher tönt, und einem schläfrigen Inhaber. Ash und Nikita lesen sich gegenseitig die Schlagzeilen der Abendzeitungen vor, ich klaube ein paar Pakete chinesischer Nudeln und ein wenig gammeliges Obst zusammen.
Ich umrunde das Regal mit den Keksen ganz hinten im Laden. Eine Neonröhre ist defekt, und es ist hier fast ganz dunkel. Dennoch kann ich erkennen, wer die beiden sind, die eng umschlungen und mit geschlossenen Augen in der dunkelsten Ecke des Ladens stehen und die Welt um sich herum vergessen haben. Sie ist klein und blond, er ist dunkelhaarig und so groß, dass er sich tief hinunterbücken muss, um an ihren geöffneten roten Mund zu kommen. Der Boden unter meinen Füßen gerät ins Wanken, und ich habe das Gefühl, außerhalb meiner selbst zu stehen. Als wäre mein eigenes Begehren bedeutungslos, stelle ich fest, dass sie ein sehr schönes Paar sind.
Es dauert nicht länger als eine Nanosekunde, und sie bemerken mich nicht, aber meine Augen registrieren alle Details mit grausamer Überdeutlichkeit.
Wie sie sich an ihn drückt, als wolle sie in ihn hineinkriechen, sich unter seinem Mantel verbergen. Wie er erregt atmet. Seine große vorsichtige Hand, mit der er ihren Hinterkopf umfasst, während seine Finger mit ihrem kurzen blonden Haar spielen. Ich stelle meinen Korb ab, drehe mich um und haste aus dem Laden. Meine Knie zittern.
Ash und Nikita folgen mir, schläfrig und verwundert. Hinter der nächsten Ecke muss ich mich an eine Hauswand lehnen. Ich versuche, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.
»Jack Winter und Arabella Chesterfield«, sage ich bitter, als ich wieder sprechen kann. Ich verdrehe die Augen in Richtung Laden und mache die hässlichste
Weitere Kostenlose Bücher