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Abschiedskuss

Abschiedskuss

Titel: Abschiedskuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Hellberg
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doch. Ich weiß es. Ich spüre es wie eine nagende, bohrende Gewissheit in mir. Ich bin der Lösung des Rätsels ganz nahe.
    »Nein. Es wohnten keine anderen Mädchen ganz oben im Nordflügel«, sagt Raymond.
    »Und die Polizistinnen, haben die während der Ermittlungen denselben Waschraum benutzt?«, frage ich.
    »Ja. Daran erinnere ich mich noch deutlich«, sagt Raymond.
    Ich schüttele resigniert den Kopf. Jetzt beginne ich zu begreifen, wie es zugegangen sein muss. So sinnlos. Wie leicht sich das alles hätte vermeiden lassen, wenn man es nur bemerkt hätte …
    »Und der Damenwaschraum ganz oben im Nordflügel hatte vermutlich seinen eigenen Heißwasserboiler?«, erkundige ich mich, obwohl ich es bereits weiß.
    »Ja, so war es«, antwortet Raymond.
    »Ein altes, klappriges Ding?«
    Er nickt und starrt dumpf vor sich hin.
    »Nun denn. Danke … danke, ich glaube, ich hab jetzt verstanden«, sage ich leise, wende mich ab und winke kraftlos mit der Hand.
    »So war das also mit der Sussex-Hexe«, murmele ich, während ich zu unserem Zimmer zurückgehe. Keine Hexe. Kein Fluch. Kein Gift. Keine Intrigen oder Verschwörungen, kein Selbstmordpakt und keine Racheaktion, sondern eine tödliche Kontamination, lebensgefährliche Umstände für eine kleine Gruppe von Frauen, die alle gewisse Gewohnheiten hatten. Dessen bin ich mir jetzt vollkommen sicher. Ein furchtbar tragisches und unnötiges Ereignis. Noch ehe das Leben richtig begonnen hatte.
    Meine beunruhigende Vorahnung und dazu Inspektor Kings Unheil verheißende Andeutungen, dass ich in Gefahr schweben könnte, versetzen mich in einen seltsamen Gemütszustand, aus dem ich mich erst einigermaßen lösen kann, als ich das Ausstellungslokal erreiche.
    Die Galerie für die Winterausstellung und die meisten Ausstellungen, die von der Akademie organisiert werden, war ursprünglich ein wichtiger Treffpunkt im Zentrum Oxfords. Einmal im Jahr wird der stolze Saal wieder seiner ursprünglichen Bestimmung zugeführt: beim nächtlichen Maskenball zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche. Dann stecken die Hausmeister Kerzen in die zwei riesigen Kronleuchter, die an Ketten in vier Metern Höhe über dem hellen, wie Blauschimmelkäse geäderten Steinboden hängen. Sie bauen eine Bühne für das Orchester auf, verkleiden die Säulen mit frischem Laub und stellen in den angrenzenden Räumen Tische für die Erfrischungen auf.
    Ich schaue zu den Kronleuchtern empor und meine dort den Widerschein einer solch zauberhaften Nacht zu sehen. Die weiße Decke ist an den Rändern mit vergoldetem Stuck abgesetzt, in dem sich die Kerzen spiegeln. Der ganze Saal schimmert und glänzt. Altmodische Kellner in Livree schöpfen Bowle aus versunkenen Zeiten in kleine silberne Henkeltassen. Ein trübes Gebräu aus Zitronensaft, Kognak, Ingwerlimonade und rubinrotem Wein.
    Kleider in Schlüsselblumengelb, Mondscheinweiß und Rosa rascheln vorbei. Die männlichen Teilnehmer des Festes haben sich nicht nach akademischem Rang verkleidet, aber die Unterschiede sind trotzdem deutlich erkennbar. Die Dons von Oxford mit ihren grauen Häuptern tragen ihre staubigen Fracks wie eine zweite Haut, die Fellows zwängen ihre männlich breiten Schultern und ihre beginnenden Bierbäuche in Maßanzüge moderneren Schnitts, und die Doktoranden wirken in ihren unbequemen Lackschuhen, billigen Hemden und geliehenen Hosen von allen am ungezwungensten.
    Alle verstecken ihre Gesichter hinter einer Maske. Der nächtliche Maskenball zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche verlangt, wie es der Name schon sagt, Maskierung.
    Traditionell trägt man Halbmasken in venezianischem Stil, Karnevalsmasken, die an Rokoko und die Oper denken lassen. Oft beziehen die Masken der Damen ihre Themen aus Flora und Fauna und sind als Huldigungen an die Nacht zu verstehen: Falter, Vögel, Katzen oder Blumen aus Federbüschen, Samtbändern und Schleiern.
    Die Männer haben zwei verschiedene Arten von Masken. Entweder einfache Seidenbinden in Schwarz, Gold oder Grün mit zwei Schlitzen für die Augen und eventuell ein oder zwei Schmuckfedern oder – beliebter – zweideutige, wahnsinnig hässliche Masken mit enormen Hakennasen, Hörnern, diabolisch schiefen Augenhöhlen und unnatürlich stark hervortretenden Wangenknochen. Kein Wunder, dass der Maskenball den Ruf hat, potenzsteigernd zu wirken. Mit einer Verkleidung fällt es leichter, jemand anderes zu sein, sich hinzugeben.
    Meine Sohlen gleiten lautlos über den polierten Boden. Er glänzt beinahe

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