Abschiedskuss
wuchten. Die Puppen gehören zu Arabella Chesterfields Installation »Enfant Terrible«, eine Art Skulptur, die vermutlich ziemlich spektakulär ist.
Im Dunkel des Lieferwagens kann ich auch Arabellas blonden Kopf ausmachen. Sie wirkt jetzt wirklich unglaublich gestresst. Das gesamte Ambiente strahlt nervöse Erwartung aus. Ich glaube, den Ausstellern ergeht es genauso wie Musikern vor einem wichtigen Konzert oder Schauspielern vor einer Premiere. Glänzende, weit aufgerissene Augen, rote Wangen, extreme Reizbarkeit. Werden wir wirklich fertig? Welche Galeristen kommen? Was werden sie denken? Und wenn der Abend vorüber ist: Wer wird in den Genuss kommen, die berauschende Wirkung des Triumphs zu verspüren?
Denn schließlich ist es so, als würde man sein Innerstes der allgemeinen Betrachtung preisgeben, denke ich, und dieser Gedanke lässt mich schaudern. Aber es ist eher ein wohliges Schaudern.
Der kleine Anbau ist leer. Inspektor Kings Gesicht hat sich zu einer einzigen finsteren Frage verdüstert, und mir wird bewusst, dass ich über dem schillernden Treiben der Ausstellungsvorbereitungen unser Telefongespräch fast vergessen habe. Mit seinem Taschentuch staubt er zwei Plastikstühle für uns ab.
»Ich habe getan, worum Sie mich gebeten haben«, beeile ich mich zu versichern. »Ich bin immer unter Leuten gewesen.«
»Gut«, sagt er. »Ich habe eben mit jemandem hier in Oxford gesprochen und mich davon überzeugt, dass Sie aus der befürchteten Richtung keinem Risiko ausgesetzt sind. Die verdächtige Person hat ein glaubwürdiges Alibi für den Mordabend. Das ist leider schon alles, was ich Ihnen sagen kann. Obwohl es wirklich ein verdammt seltsamer Zufall ist … Und ich glaube nun mal nicht an Zufälle.«
Er sagt das nachdenklich, als wäre ich gar nicht da.
»Nichts von Bedeutung für die Ermittlungen also?«, frage ich. Meine Worte holen ihn in die Gegenwart zurück.
»Ich weiß nicht«, erwidert er, und in diesem Augenblick sehe ich etwas an ihm, das mich mehr erschreckt als alle Albtraumbilder zusammen. Ein Schatten zieht über das Fenster, und die nackte Glühbirne flackert. Der Inspektor sieht machtlos aus. Machtlos, verwirrt und müde.
Noch etwas anderes muss ich mir eingestehen, etwas, was ich verdrängt hatte: Irgendwo dort draußen lauert ein Mörder. Ein schonungsloser, brutaler Mörder, dessen Gesicht, Namen, Motiv und Pläne wir nicht kennen.
»Sie dürfen mir wahrscheinlich nicht sagen, mit wem Sie gesprochen haben?«, frage ich. Meine Stimme ist schwach und leise. King schüttelt ernst den Kopf, und ich denke, dass er es eigentlich gar nicht zu sagen braucht.
Das kleine Frauenporträt auf einem Stück Treibholz. Ich weiß genau, wen Steve King verhört hat. Diese Person werde ich selbst zur Rechenschaft ziehen, auf meine Weise. Ich werde die Bedingungen diktieren. Jetzt noch nicht, aber bald.
»Was wollten Sie also von mir?«, fragt King.
Ich schließe zwei Sekunden lang die Augen und denke an den Traum. Ich stelle mir die neblige Strandpromenade vor. Den Bettler mit seiner Schirmmütze und seinen Zigarettenstummeln. Jemand beugt sich vor und gibt ihm ein Pfund. Vielleicht bin ich das selbst. Aber es kann auch jemand anders sein, zu einem anderen Zeitpunkt. Vielleicht bleibt dieser Jemand gar nicht stehen, sondern eilt in der Dunkelheit an ihm vorbei, mit gebeugtem Kopf, so dass das Gesicht nicht zu sehen ist. Jemand, der den Bettler nicht sieht. Aber der Bettler sieht. Sieht langes, hängendes Haar, das auf die Schultern fällt, als sie vornübergebeugt vorbeirennt.
»Eine Frau«, sage ich leise. »Haben Sie darüber nachgedacht, dass der Mörder eine Frau sein könnte?«
»In der Tat, das haben wir«, sagt King und setzt sich gerade hin. Es ist ihm einigermaßen erfolgreich gelungen, wieder zu seinem munteren und aufmerksamen Aussehen zurückzufinden. »Und wie kommen Sie auf diesen Gedanken, wenn ich fragen darf?«
Ich zucke etwas dümmlich mit den Achseln.
»Anfänglich schlossen wir diese Möglichkeit aufgrund der Art des Verbrechens aus. Im Hinblick auf die enorme Kraft, die nötig war, und die starke sexuelle Konnotation. Aber dann tauchte ein neuer Zeuge mit einigen interessanten Informationen auf«, fährt King fort.
»Pete«, sage ich. »Als Sie und ich im Café in Brighton saßen.«
»Ja. Ich kann das guten Gewissens zugeben, denn Sie haben sich ja bereits einiges zusammengereimt. Als er aus der Entziehungsklinik kam, ist ihm, wie gesagt, einer dieser Zettel mit der
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