Abschiedskuss
mich nicht, weißt du. Auch manche Typen. Sie fühlen sich bedroht, glaube ich. Ich habe ja einen … etwas besonderen Appetit.«
»Ich mag dich«, sage ich.
»Aber du bist ja auch etwas seltsam«, erwidert sie und lacht.
Ich sitze auf unserer grünen Chaiselongue und öffne eine Flasche Wein, als ich eine große DIN-A3-Ledermappe entdecke, die neu aussieht.
»Was ist das?«, frage ich.
Nikita stellt die beiden Gläser ab.
»Ein vorzeitiges Weihnachtsgeschenk von mir selbst«, antwortet sie. »Mein Studiendarlehen für das Frühjahrssemester ist eingetroffen, und da dachte ich, das ist die Gelegenheit. Es ist eine Entwurfsmappe, die man Kunden vorlegen kann. Willst du sie sehen?«
Sie öffnet den Reißverschluss der Mappe. Darin sind wie in einem Ringbuch zehn Klarsichthüllen aus dickem Plastik mit sehr schönen Arbeitsproben. Sie hat sehr fleißig und viel intensiver daran gearbeitet, ihr zerstörtes Portfolio wiederherzustellen, als mir klar war.
»Man nimmt diese Mappe mit, wenn man sich irgendwo vorstellt«, sagt sie. »Einige Verlage und Zeitschriften in London haben spezielle Portfolio-Tage, da gibt man sie am Empfang ab und holt sie nachmittags wieder ab. Manche Illustratoren legen nur lose Blätter hinein, um sicherzugehen, dass die Redakteure sie auch wirklich durchblättern. Aber dieses System ist inzwischen recht veraltet. Heutzutage braucht man auch eine eigene Homepage. Mein Cousin will mir über die Weihnachtsferien helfen, eine einzurichten.«
»Wow, echt gut«, sage ich und deute auf eine der Arbeiten: eine Frau, die auf einem Wolkenkratzer gymnastische Übungen macht. Keine reine Zeichnung, sondern die vollständig gestaltete Seite einer Zeitschrift.
»Danke«, erwidert Nikita bescheiden. »Das war in der Tat mein Durchbruch, oder wie man das nennen will. Wurde im O Magazine , der Zeitschrift von Oprah, veröffentlicht, kennst du es?«
Ich nicke.
»Die Amerikaner schätzen offenbar derart plastische Illustrationen. Ich habe also letzten Sommer ein paar Proben eingesandt. Der Art Director hat sich nach zwei Wochen bei mir gemeldet und diese Illustration für einen Artikel über Frauen, die ihre Mittagspause für Fitnesstraining nutzen, in Auftrag gegeben! Das Honorar betrug zweihundert Dollar.«
Ich huste leicht.
»Zweihundert Dollar! Das ist viel!«, sage ich erstaunt.
»Ja, schon. Aber man braucht eine ganze Menge solcher Aufträge pro Monat, damit am Ende des Jahres ein halbwegs vernünftiger Lohn herauskommt«, lächelt Nikita. Ich sehe ihr dennoch an, wie stolz sie ist. Zu ihren Arbeitsproben gehören außerdem ein aufwändiger, ziemlich detaillierter Stadtplan von Rom und einige hübsche Illustrationen für eine Horoskopseite. Fisch, Zwilling, Löwe und Widder, alle in Gestalt stilisierter Frauen in hinreißenden Farben.
»Ein Stadtplan und ein Horoskop gehören immer dazu«, sagt sie. »Alles in der Mappe muss absolute Spitze sein. Das allerbeste Bild kommt zuerst. Das zweitbeste ganz hinten. Keine Erklärungen. Die Bilder müssen für sich selbst sprechen.«
Ich trinke einen großen Schluck Wein.
»Woher weißt du das alles?«, will ich wissen.
»Ich habe Leute gefragt, die sich auskennen«, sagt sie und stößt mit mir an. »Und selber nachgedacht. Außerdem habe ich sehr viel in Zeitschriften und Büchern geblättert. Der Kurs im letzten Sommer hat mich inspiriert, und dann habe ich einfach losgelegt.«
»Du brauchst diesen Kurs eigentlich gar nicht mehr«, sage ich, »du kannst ja schon alles.«
»Oh nein«, erwidert Nikita mit Nachdruck. »Ich muss noch sehr viel lernen, und darüber hinaus ist es ja auch etwas Besonderes, Leo Chesterfield so nahe zu sein.«
Ich beuge mich über den Tisch und ergreife ihre beiden Hände.
»Ihr trefft euch wieder? Außerhalb des Unterrichts?«
Sie lächelt wie eine Katze.
»Du vergeudest keine Zeit, Nikita«, sage ich und schenke ihr nach. »Auf keinem Gebiet. Warum lebst du so schnell?«
»Ich habe irgendwo gelesen, dass das Leben eines Menschen im Durchschnitt tausend Monate dauert«, sagt sie. »Das klingt doch nach wenig, nicht wahr? Und ich habe bereits über zweihundertfünfzig davon verbraucht.«
33. Kapitel
Das »Freud« liegt in einer ehemaligen Kirche, einem neugotischen Gebäude im Stadtteil Jericho. Aber sowohl der Kirchenraum als auch das Gelände drum herum haben sich in den letzten sechzig Jahren gewandelt. Früher beteten müde Druckereiarbeiter hier zu Gott, heute ist das Freud eine exzentrische Bar, umgeben von
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