Abschiedskuss
meinen Armen. Jack riecht nach Bettwäsche, Mann und Seife.
»Dieser Slip«, sagt er. »In den mein Palettenmesser eingewickelt war. Ich habe darüber nachgedacht. Ich muss ihn hier im Haus neben Ruperts Wäschekorb gefunden haben oder unter der Wäscheleine oder im allgemeinen Durcheinander … Ich habe ihn für einen Lumpen gehalten. Ich bin so zerstreut, wenn ich male. Du siehst ja, wie es hier aussieht …« Er deutet auf das Durcheinander im Zimmer, um seiner Bemerkung Nachdruck zu verleihen.
»Verzeih mir«, sage ich leise.
Er schaut zu Boden.
»Du«, sage ich und beiße mir auf die Unterlippe. »Ich habe keine Erfahrung mit solchen Dingen, ich sage jetzt einfach, was ich loswerden möchte«, murmele ich so rasch, dass ich fast über meine eigenen Worte stolpere. Ich sitze auf dem äußersten Rand der Bettkante und schaue auf meine Hände, damit Jack nicht sieht, wie nahe ich den Tränen bin.
»Ich mag dich. Gestern habe ich dich mit einer anderen gesehen. Das tut mir weh. Das war es auch schon«, sage ich.
Er schweigt eine Weile, aber ich höre an seinen Atemzügen, dass er wütend ist.
»Und ich habe dich auch mit einem anderen gesehen«, erwidert er schließlich. »Viel früher. Mit diesem Typen im Anzug, mit dem du verschwunden bist. Ist das dein älterer Liebhaber oder was?«
»Nein«, sage ich müde, als mir die Wahrheit dämmert. »Ich mag ihn, aber nicht auf diese Art. Wirklich nicht. Er ist Polizist. Ich kenne ihn, weil er mit den Ermittlungen zu meiner Mutter betraut ist. Sie ist letzten Herbst gestorben.«
»Deine Mutter ist gestorben? Hier in England? Das tut mir sehr leid«, sagt Jack und scheint seine Entrüstung vergessen zu haben.
»Das ist eine lange Geschichte. Aber ich gehe jetzt«, sage ich leise. Ich bin vollkommen ausgelaugt und habe Zweifel, ob es mir überhaupt gelingt, auf die Beine zu kommen.
Am liebsten würde ich hier auf Jacks Bettkante sitzen bleiben und ihn anschauen. Jedes Mal, wenn ich sein Gesicht betrachte, entdecke ich etwas Neues, wie zum Beispiel, dass seine Augen je nach Stimmungslage die Farbe verändern. Aber das ist alles Unsinn, schließlich hat er eine andere.
Jack räuspert sich und murmelt etwas, was ich nicht verstehe.
»Wie bitte?«, sage ich.
»Du hast mich schon verstanden«, sagt er, und sein gekränkter Ton ist wieder da.
»Nein, sag es noch mal.«
»Ich mag dich auch«, sagt er. Seine schottischen Vokale klingen noch weicher als sonst.
»Und … sie? Hattet ihr Ecstasy genommen?«, frage ich, als sei das ein mildernder Umstand.
»Ja, das hatten wir vermutlich. Ich zumindest. Und dann hat sie sich dort in dem Laden einfach auf mich gestürzt, ich kam mir vollkommen überrumpelt vor und habe überhaupt nichts kapiert. Es war, als hätte sie mit jemandem gewettet. Dabei will ich doch nur mit dir zusammen sein.«
»Aber du hast ihren Kuss erwidert. Ich habe es gesehen.«
Jack sieht aus wie ein großer betrübter Hund.
»Ja«, sagt er. »Das habe ich. Es ist zwar keine Entschuldigung, aber ich bereue es. Und zwar ungemein.«
»Ich auch«, sage ich leise, obwohl ich nicht weiß, was ich bereue.
Jack richtet sich plötzlich abrupt im Bett auf und legt seinen Kopf mit dem zerzausten Haar auf meine Schulter.
»Ich will dich wiedersehen«, sagt er heiser. »Bitte, sag, dass ich dich wiedersehen darf.«
»Ja. Klar doch. Spätestens im Unterricht. Denn du hast doch wohl nicht vor, den Kurs hinzuschmeißen, nur um mir aus dem Weg zu gehen?«, sage ich.
Er flüstert etwas Verneinendes in mein Haar und streicht mir vorsichtig über den Arm.
32. Kapitel
Die lange Stake, die so schwer ist, dass ich sie kaum anheben kann, liegt ruhig und glatt in Nikitas Händen. Vorsichtig stößt sie uns von Mill Creek Manors kleinem Pontonsteg ab, und wir gleiten lautlos auf den dunklen Fluss. Am Ufer bleibt Raymond zurück und verflucht Nikitas Sturheit und sich selbst, weil er den Stechkahn, der dem Wohnheim gehört, noch nicht für den Winter an Land gehoben hat. Es ist zwar kein schöner Herbsttag, aber zumindest regnet es nicht.
»Ich wollte schon lange mal mit dem Stechkahn fahren, aber die Jungs waren immer vor mir da«, sagt Nikita. Sie spricht leiser als sonst. Ihre Stimme hat hier draußen auf dem Fluss ein beinahe betörendes Timbre.
»Wir haben Glück«, fährt sie fort. »Im Frühjahr und Sommer ist es nahezu unmöglich, an das Boot von Mill Creek Manor heranzukommen. Du solltest mal sehen, wie schön es ist, wenn die Studentenheime ihren
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