Abschiedskuss
namhaften Verlagen, schicken Boutiquen, Feinkostläden und nunmehr unerschwinglichen Arbeiterhäusern.
Jack hält mir die Tür auf, und mich schwindelt, als ich eintrete und in die hohe Kuppel schaue.
»Komm«, sagt Jack, »wir setzen uns vor die Bühne, oder vielleicht sollte man besser sagen: in den Chor. Ich glaube, dort ist es etwas wärmer.«
Erstaunlicherweise sind wir die einzigen Gäste. Es duftet nach frisch gemahlenem Kaffee und nach den riesigen, schon fast verblühten Lilien auf dem Tresen aus Kupferblech. Im Freud hängen meist Werke von Oxforder Künstlern an den Wänden, und Jack hatte hier am Abend zuvor eine Vernissage. Mehrere seiner Gemälde sind mit einem runden roten Aufkleber versehen. Er hat viel verkauft, und das erstaunt mich nicht. Allerdings verstehe ich nicht, warum er Chesterfield und den anderen aus der Klasse nichts von der Ausstellung erzählt hat. Als wolle er diese Seite seiner selbst vor uns geheim halten. Der Barkeeper nickt Jack lässig und mit vertraulicher Miene zu, macht sich an der Espressomaschine zu schaffen, legt eine CD mit Cool Jazz ein und verschwindet dann.
Jack stellt zwei winzige, dampfende Espressotassen auf den Tisch, den er so hingestellt hat, dass ich nicht in der Zugluft von der Tür sitzen muss. Ich fühle mich berauscht. Der Stuhl ist kalt wie Stein, und ich habe meinen Schal in ein Kissen umfunktioniert.
»In den Fünfzigerjahren war Jericho eine Art Rotlichtviertel«, sagt Jack und schaut zu einer seiner gerahmten Zeichnungen hoch.
Es ist ihm zweifellos gelungen, diesen gefühlvollen Pastellstudien ebensolche Tiefe und Ausdruckskraft zu verleihen wie seinen schonungslosen reliefartigen Gemälden. Er fingert an seiner Kaffeetasse herum, sieht mich scheu an und blickt dann wieder auf die Tischplatte. Ich merke, dass er nervös auf mein Urteil wartet.
Die Wahrheit ist, dass Jack eine Doppelnatur zu sein scheint. Diese Bilder sind vollkommen anders – und einzigartig. Seine anderen Werke, die Ölgemälde, die wir im Zeichensaal sehen, sind provozierend, ja verstörend und unvergesslich. Aber hier hat sich Jack einer leichteren Hand bedient und eine Serie von Porträts geschaffen, die zwar ungeschminkt und realistisch sind, aber doch auch Weichheit und Empathie ausstrahlen. Seine Modelle sind teils kleine Kinder, teils sehr alte Menschen. Sie wirken oft träge oder nachdenklich und nicht immer fröhlich. Das Ganze hätte leicht zu theatralisch oder gar kitschig geraten können, aber in diese Falle ist er nicht getappt. Man spürt deutlich, dass die Porträts in einer Umgebung entstanden sind, in der sich die Modelle geborgen fühlen, und dass sie dem Künstler vollkommen vertrauen.
»Jack, mir fehlen die Worte«, sage ich und lege meine Hand auf seine.
Sein eines Augenlid zuckt.
»Du meinst … du findest, sie sind okay?«
»Ja. Oh ja.«
Ich erhebe mich, um mir die Zeichnungen anzuschauen, die ich von meinem Platz aus nicht so gut sehen kann. Jack folgt mir stumm mit einigen Schritten Abstand. Langsam und nachdenklich drehen wir eine Runde. Bei jedem Bild merke ich, wie er meine Reaktion beobachtet und sich weiter entspannt.
»Du«, sage ich, ohne ihn anzusehen.
»Da ist etwas, das du mir erklären musst. Deine grausigen Bilder, was bezweckst du damit? Sie sind sehr kunstvoll in der Ausführung, aber sie sind vollkommen anders als diese hier.«
Ich mache eine ausholende Geste.
»Willst du die andern schockieren oder eine Diskussion provozieren? Die Leute finden das Groteske ja faszinierend, aber …«
Jack vergräbt seine Hände in den Hosentaschen und wirft die Haare zurück, dann antwortet er.
»Das war … wohl so eine fixe Idee von mir. Und vielleicht auch … du weißt schon … ein Marketingtrick.«
Jack streckt die Arme aus und zieht mich an seine knochige Hüfte.
»Es ist wichtig, dass man heute in der Kunstbranche auffällt«, erklärt er. »Dass man wahrgenommen wird. Düstere Motive können einen über Nacht zum Brit-Art-Star machen. Mark Quinns Kopf, der aus seinem eigenen Blut besteht, die Arbeiten der Chapman-Brüder … tja, du weißt schon. Aber ich glaube, ich habe inzwischen …«
Jacks Worte verlieren sich, und ich versuche, ihm weiterzuhelfen.
»Gut«, sage ich. »Ich glaube, das, was gerade passiert, ist gut. Das hier bist viel mehr du .«
»Weißt du, Maja, ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich im nächsten Semester nach Oxford zurückkehre«, sagt er plötzlich.
»Du willst dein Studium hinschmeißen?«, frage ich
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