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Abschlussfahrt

Abschlussfahrt

Titel: Abschlussfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Till
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zwar auch schon einmal hängen geblieben, aber wie gesagt, das hat nicht immer unbedingt etwas mit mangelnder Intelligenz zu tun. So habe ich ihn übrigens auch kennengelernt, beim gemeinsamen Schwänzen in der Stadt. Als dann feststand, dass ich auf die Realschule komme, war eins natürlich sofort klar: Ich musste zu Marlon in die Klasse. Wuttke sah das allerdings anders, vor allem nachdem er die Kopfnoten auf meinem letzten Zeugnis gelesen hatte. Betragen: 5. Fleiß: 6. Ordnung: 6. Aufmerksamkeit: 5. Wie soll man denn aber auch bitte schön fleißig und ordentlich sein, wenn man kaum anwesend ist? Jedenfalls stand ich an meinem ersten Tag Realschule vor Wuttkes Pult und er las meine Kopfnoten und dann schüttelte er seinen Kopf und meinte, das müsste wohl ein Irrtum sein, da hätte jemand was verwechselt, ich sollte gar nicht in seine Klasse. Ja, genau. Von wegen verwechselt. Er hatte bloß Schiss, einen zweiten Marlon zu kriegen. Dass er dem ersten schon nicht gewachsen war, zeigte sich gleich darauf.
    Marlon ließ seine Faust laut auf den Tisch krachen und rief: »Nichts da! Das ist mein Kumpel! Der bleibt hier!«
    Wuttke versuchte natürlich hart zu bleiben, aber nachdem erst ein paar wenige, doch kurz darauf alle aus der Klasse auf ihre Tische trommelten und rhythmisch »Der bleibt hier! Der bleibt hier!« brüllten, hatte er quasi keine andere Chance und ich war schließlich offiziell anerkanntes Mitglied der 10a. Marlon hat eine sehr ansteckende Art, wenn es darum geht, Lehrerautorität zu untergraben. Das und sein teilweise sehr böser Humor ließen ihn zum Schrecken aller Lehrer werden. Und wenn ich sehr böse sage, dann rede ich nicht davon, dass Marlon kurz vor Unterrichtsbeginn gerne mal auf den Stuhl von Frau Maatz, unserer Englischlehrerin, spuckt, um sich schlapp zu lachen, wenn sie sich reinsetzt. Nein, das ist nicht sehr böse, nicht, wenn es um Marlon geht.
    Da hat er schon ganz andere Sachen gebracht. Die Geschichte mit den neuen Nachbarn zum Beispiel. Die ist so böse, dass man sie eigentlich gar keinem erzählen darf. Aber Marlon erzählt sie ständig, also erlaube ich mir das jetzt auch einfach mal. Das Ganze spielte sich folgendermaßen ab: ein warmer Samstagmorgen im Juni. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten, und einer von ihnen war besonders gut drauf, obwohl er in einem Käfig eingesperrt war. Marlon erwachte von diesem fröhlichen Gepiepe, viel früher als nach einer durchzechten Nacht vorgesehen. Schlecht gelaunt und mit schwerem Kopf schleppte er sich an sein Fenster, um nachzusehen, was ihn dort so unsanft geweckt hatte. Sein Blick fiel auf das Haus nebenan, vor dem ein Möbelwagen stand. Marlon erinnerte sich: Die Schulzes hatten ihre Hütte verkauft, das musste also der Einzug der neuen Nachbarn sein. Kein Grund ihn zu wecken. Das blöde Gepiepe hatte immer noch nicht aufgehört und Marlons Augen suchten genervt nach dessen Ursprung. Dann entdeckten sie ihn. Auf der Wiese des kleinen Vorgartens. Ein Vogelkäfig, aus dem irgendetwas bunt Gefiedertes unbekümmert vor sich hin fiepte. Und direkt daneben ein kleines Mädchen, das unbeholfen damit beschäftigt war, beim Hüpfen mit seinem Springseil nicht hinzufallen. Marlons Müdigkeit und sein dicker Kopf waren auf einmal verschwunden. Er wusste, was zu tun war. Während er sich anzog, rief er mehrmals laut nach seinen Eltern, um sich zu vergewissern, dass sie nicht zu Hause waren. Samstag war Einkaufstag, und sie hatten sich daran gehalten, die Luft war rein. Marlon stieg die Treppe hinunter und öffnete den Waffenschrank in der Diele. Sportwaffen, wohlgemerkt. Keine Schrotflinten, Pumpguns, Uzis oder ähnlich illegale Knarren. Marlon ist, wie der Rest der Familie, Mitglied des örtlichen Schützenvereins. Und seine Spezialdisziplin war schon immer das Luftgewehr; Vierter bei den Deutschen Meisterschaften in seiner Altersklasse.
    Marlon schnappte sich sein Sportgerät und lud es mit einem Diabolo. Vorsichtshalber steckte er noch zwei in seine Hosentasche, wobei er eigentlich wusste, er würde sie nicht brauchen. Er öffnete die Terrassentür und trat hinaus in den Garten. Das Nachbargrundstück war durch einen Lattenzaun abgegrenzt, Marlon schlich sich heran und spähte durch eine Lücke. Auf der anderen Seite schleppten gerade zwei Männer ächzend einen Schreibtisch an ihm vorbei. Er wartete, bis sie im Haus verschwunden waren. Der Blick auf sein Opfer war frei.
    Das Mädchen mühte sich immer noch mit seinem Springseil ab.

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