Abschlussfahrt
Dann fing es an zu singen: »Alle Vögel sind scho-hon da …«
Das war genau das Zeichen, auf das Marlon gewartet hatte.
»Alle Vögel, a-lle …«
Der Lauf des Gewehrs schob sich langsam zwischen zwei Latten hindurch.
»Amsel, Drossel, Fink u-hund Star …«
Marlon atmete tief ein, hielt die Luft an und nahm Maß.
»Und die ganze Vo-ge-hel-schar …«
Das leise Ploppen eines ausgelösten Luftgewehrschusses ertönte. Fast im selben Moment riss es das Vöglein in seinem Käfig von der Stange. Eine kleine Wolke aus Federn umhüllte den Tatort. Stille. Verwirrte, neugierige Blicke eines kleinen Mädchens, das langsam auf die Behausung ihres gefiederten Freundes zuging: »Kuki?«
Es tippte mit einem Finger vorsichtig an die Gitterstäbe. »Kuki? Schläfst du?«
Es rüttelte den Käfig, Federn stiegen auf. »Kuki, sag doch was!«
Es öffnete das kleine Türchen, griff hinein und stupste Kuki vorsichtig an. Dann wurde es ihm klar. Tote Vögel singen keine Lieder. Es fing an, aus vollem Hals zu schreien. »Mama! Papa! Kuki ist im Himmel! Kuki ist im Himmel!«
Seine Eltern kamen aus dem Haus gerannt.
»Kuki ist im Himmel! Kuki ist im Himmel!«
Der Blick des Vaters fiel auf den Käfig und das offene Türchen. Er reckte seinen Kopf suchend gen Himmel. Die Mutter tat es ihm gleich. Die Kleine plärrte immer weiter.
»Da bist du aber auch selbst dran schuld!«, motzte der Vater sie an. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst die Finger von Kukis Tür lassen!« Woraufhin die Kleine natürlich noch lauter anfing zu plärren. Und Marlon es hinter dem Zaun vor unterdrücktem Lachen nicht mehr aushielt und zurück ins Haus flüchtete. Ja, ich weiß, das ist eigentlich alles andere als lustig. Das arme Mädchen. Von Kuki ganz zu schweigen. So etwas würde ich natürlich nie machen. Aber Marlon eben. Und ich schwöre, wenn er diese Geschichte erzählt, liegt jeder vor Lachen auf dem Boden. Na gut, vielleicht nicht jeder, aber wir zumindest. Marlon kann das auch viel besser erzählen als ich. So richtig enthusiastisch und mit Freude, da kann man gar nicht anders als mitzulachen. Nicht, dass ich damit irgendwas entschuldigen will. Ich weiß, ich habe nun mal einen etwas kranken Humor. Aber dazu stehe ich voll und ganz, jederzeit, kein Problem. Und darum freue ich mich auch, dass Marlon jetzt doch noch rechtzeitig aufgetaucht ist. Er ist unsere einzige Chance auf ein bisschen Spaß in der öden Toskana. Auch wenn Wuttke das sicherlich und wahrscheinlich sogar zu recht anders sieht. Sein Problem. Das wird schließlich unsere Abschlussfahrt, nicht seine.
»Ihr wartet doch wohl nicht etwa alle auf mich?«, ruft Marlon, als er bei uns angekommen ist.
»Marlon, mach die Zigarette aus!«, brummt Wuttke ihn an.
»Ja, gleich«, sagt Marlon. »Was ist jetzt? Steigen wir ein?«
»Nicht gleich, sofort!«, brummt Wuttke etwas energischer.
»Ja, ja, sofort, ist ja gut«, erwidert Marlon, nimmt genüsslich einen tiefen Zug und schiebt die Kippe zurück in seinen Mund. »Sie wissen nicht zufällig, was ein Bier im Speisewagen kostet? Meine Mutter hat mir extra Geld für die Fahrt mitgegeben.«
»Zigarette aus!«, brüllt Wuttke. »Ich sag’s nicht noch mal! Und du weißt genau, was wir ausgemacht haben! Alkohol nur nach Absprache und wenn ich dabei bin! Sonst kannst du gleich hierbleiben!«
»Ich fürchte, das geht leider nicht, Herr Wuttke«, sagt Marlon und nimmt wieder einen Zug von seiner Kippe. »Wissen Sie, meine Eltern haben sich gedacht, sie nutzen meine Abwesenheit mal, um selbst wegzufahren. Eine Woche Swingerklub in der Lüneburger Heide, all inclusive. Sie sind schon unterwegs, haben mich gerade noch hier abgesetzt. Deswegen bin ich auch so spät, mein Vater hat seinen grünen Stringtanga nicht gefunden. Und in der ganzen Hektik habe ich doch glatt meinen Schlüssel liegen lassen. Bitte nehmen Sie mich mit, Herr Wuttke! Bitte, bitte! Ich weiß doch sonst gar nicht, wo ich hinsoll!«
Wuttke fehlen die Worte. Die noch anwesenden Eltern starren Marlon fassungslos an. Ich versuche krampfhaft jeden Blickkontakt mit Marlon oder Lars zu vermeiden, damit ich nicht laut loslache.
Marlon nimmt noch einen letzten Zug, wirft die aufgerauchte Kippe auf den Boden, schiebt sich an Wuttke vorbei und setzt einen Fuß auf die erste Stufe von Wagen 26.
»Was ist jetzt? Kommt ihr?«, fragt er und dreht sich zu uns um. »Die warten nicht ewig auf uns.«
Okay, der Chef hat gesprochen. Wir strömen auf die Tür zu.
Die
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