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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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bedroht. Er fühlt sich verfolgt, und Sie haben ein Foto von ihm erhalten.“
„Ja.“
„Ich möchte, dass Sie Ihre Aktivitäten einschränken.“
„Ich kann nicht…“
„Ihre Sprechstunden und Termine können Sie beibehalten“, erklärte ich, „aber machen Sie eine kleine Pause in Bryce, bis ich etwas weitergekommen bin.“
Sie nickte.
„Eric?“ fragte ich.
Er sah mich an.
„Die Pistole, die du trägst: Kannst du damit umgehen?“
„Ich übe jede Woche. Ich bin ein guter Schütze.“
„Das ist ein bisschen was anderes, als auf Menschen zu schießen, Eric.“
„Ich weiß.“
„Ich möchte, dass du Dr. Warren in den nächsten Tagen nicht von der Seite weichst. Geht das?“
„Ja, sicher.“
„Wenn was passiert, dann verschwende keine Zeit damit, auf den Kopf oder das Herz des Angreifers zu zielen.“
„Sondern?“
„Pump die ganze Ladung in den Körper, Eric. Sechs Treffer sollten selbst ein Nashorn erledigen.“
Er sah enttäuscht aus, so als habe sich gerade herausgestellt, dass er die ganze Zeit umsonst im Schiessclub geübt hatte. Vielleicht war er ja ein guter Schütze, doch bezweifle ich, dass sich Diandras Angreifer eine Zielscheibe auf die Stirn malen würde.
„Eric“, fragte ich. „Bringst du mich zur Tür?“
Er nickte. Wir verließen die Wohnung und gingen durch den kurzen Flur bis zum Aufzug.
„Egal wie ich meinen Job hier mache: Mit unserer Freundschaft hat das nichts zu tun. Das verstehst du doch, oder?“
Eric blickte auf seine Schuhe und nickte.
„Was für eine Beziehung hast du zu ihr?“
Er sah mich mit unbeweglichem Blick an. „Warum?“
„Keine Privatsphäre, Eric! Denk dran. Ich muss wissen, wie hoch dein Einsatz hier ist.“
Er zuckte mit den Achseln. „Wir sind Freunde.“
„Freunde, die miteinander schlafen?“
Er schüttelte den Kopf und lächelte bitter. „Manchmal, Patrick, denke ich, dir fehlen ein paar Umgangsformen.“
Ich zuckte mit den Achseln. „Ich werde nicht für meine Tischmanieren bezahlt, Eric.“
„Diandra und ich lernten uns in Brown kennen, als ich dort meinen Doktor machte und sie gerade graduiert war.“
Ich räusperte mich. „Noch mal: Seid ihr zwei intim?“
„Nein“, erklärte er. „Wir sind nur sehr gute Freunde. Wie du und Angie.“
„Du verstehst doch, warum ich davon ausgehen muss?“ Er nickte.
„Ist sie mit jemand anders intim?“ /
Er schüttelte den Kopf. „Sie ist…“ Er blickte hoch zur Decke, dann hinunter auf seine Füße.
„Sie ist was?“
„Sie ist sexuell inaktiv, Patrick. Das ist eine philosophische Entscheidung. Sie lebt seit mindestens zehn Jahren enthaltsam.“ „Warum?“
Sein Blick verdunkelte sich. „Ich habe es dir schon gesagt: aus freiem Willen. Es gibt Menschen, die nicht von ihrer Libido beherrscht werden, Patrick, auch wenn diese Einstellung für jemanden wie dich schwer vorstellbar ist.“
„Gut, Eric“, lenkte ich ein. „Gibt es sonst noch was, das du mir nicht erzählt hast?“
„Zum Beispiel?“
„Irgendwelche Leichen im Keller“, sagte ich. „Irgendein Grund, warum dieser Mensch Jason bedroht, um dir zu schaden?“ „Worauf spielst du an?“
„Ich spiele auf gar nichts an, Eric. Ich habe eine direkte Frage gestellt. Ja oder nein, mehr will ich nicht hören.“
„Nein.“ Seine Stimme klang eisig.
„Tut mir leid, dass ich dir diese Fragen stellen muss.“
„Ach ja?“ erwiderte er, drehte sich um und ging zurück in die Wohnung.

6
    Es war schon fast Mitternacht, als ich Diandras Wohnung verließ; ich fuhr in Richtung Süden an der Mole entlang, die Stadt war schon still. Die Temperatur lag noch immer um die zwölf Grad, und ich ließ die Fensterscheiben meines rollenden Schrotthaufens herunter, damit die warme Brise die muffige Luft vertrieb.
Nachdem mein letzter Firmenwagen auf einer düsteren, vergessenen Strasse in Roxbury einen Herzinfarkt erlitten hatte, hatte ich diesen nussbraunen Crown Victoria Baujahr 86 auf einer Polizeiauktion erstanden, von der mir mein Freund Devin, ein Polizist, erzählt hatte. Der Motor war unverwüstlich: Man konnte einen Crown Victoria von einem Wolkenkratzer stürzen – der Motor tuckerte noch, wenn der Rest des Autos schon längst in alle Himmelsrichtungen verstreut war. Für die Erneuerung der Technik gab ich eine Menge Geld aus, außerdem kaufte ich hochwertige Reifen, doch das Wageninnere ließ ich so, wie ich es vorgefunden hatte: Himmel und Sitze vergilbt von den billigen Zigarren des Vorbesitzers, aus den zerrissenen Rücksitzen

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