Absender unbekannt
Tisch gesessen. Dann hatte ich eine Frau gesehen, die auf dem Boden festgenagelt war. Dann hatte mir jemand eine Schachtel mit Aufklebern und ein „HI!“ geschickt. Dann hatte ich einen Zettel mit der Nachricht „vergissnichthochzusehen“ gefunden. Menschen ballerten auf Abtreibungskliniken und U-Bahn-Waggons und jagten Botschaften in die Luft. In Kalifornien rutschten Häuser von den Hängen, in Indien verschwanden sie in der Erde. Hatte ich nicht Grund genug, aus dem Gleichgewicht zu sein?
Ich schlang die Arme um ihre Taille und zog sie zu mir herunter, schob die Hände unter ihren Pullover und fuhr mit den Handflächen an der Seite ihrer Brüste entlang. Sie
biss sich auf die Unterlippe, ihre Pupillen weiteten sich ein wenig. „Du hast letztens morgens etwas zu mir gesagt“, begann ich. „Ich habe letztens morgens ‘ne ganze Menge zu dir gesagt“, gab sie zurück. „Zum Beispiel habe ich ein paarmal >O Gott< gesagt, wenn ich mich richtig erinnere.“
„Das meine ich nicht.“
„Oh“, bemerkte sie und schlug mir mit den Händen auf die Brust. „Dieses >Ich liebe dich<. Meinen Sie das, Detektive?“
„Ja, Ma’am.“
Sie knöpfte mein Hemd bis zum Bauchnabel auf und streichelte mir über die Brust. „Und? Was ist damit? Ich liebe dich.“
„Warum?“
„Warum?“ wiederholte sie.
Ich nickte.
„Das ist ja wohl die dümmste Frage, die ich je gehört habe. Fühlst du dich nicht liebenswert, Patrick?“
„Vielleicht nicht“, entgegnete ich, während sie die Narbe auf meinem Bauch berührte.
Sie sah mir in die Augen. Ihr Blick war freundlich und warm. Sie beugte sich vor und glitt an meinem Körper herunter, bis ihr Kopf in meinem Schoss lag. Sie knöpfte den Rest des Hemdes auf und legte das Gesicht auf die Narbe. Mit der Zunge zog sie die Umrisse nach, dann küsste sie sie.
„Ich liebe diese Narbe“, sagte sie und stützte das Kinn darauf ab, während sie mir ins Gesicht sah. „Ich liebe sie, weil sie ein Zeichen des Bösen ist. Genau das war dein Vater, Patrick. Böse. Und so wollte er dich auch machen. Aber er hat es nicht geschafft. Du bist nämlich freundlich und zärtlich, du kommst so toll mit Mae zurecht, und sie hat
dich richtig lieb.“ Mit den Fingerkuppen trommelte sie auf die Narbe. „Siehst du, dein Vater hat verloren, weil du ein guter Mensch bist, und wenn er dich nicht geliebt hat, dann ist das, verdammt noch mal, sein Problem, nicht deins. Er war ein Arschloch, und du bist alle Liebe wert.“ Sie erhob sich auf allen vieren über mich. „Meine ganze Liebe und Maes ganze Liebe.“
Eine Minute lang konnte ich nicht sprechen. Ich blickte in Grace’ Gesicht und sah all die Fältchen, ich wusste, wie sie im Alter aussehen würde, dass viele Männer in fünfzehn oder zwanzig Jahren nicht mehr erkennen würden, wie wunderschön ihr Gesicht und ihr Körper einmal gewesen waren, und es war mir egal. Weil es auf lange Sicht vollkommen nebensächlich war. Ich habe meiner Exfrau Renee gesagt, dass ich sie liebe, und sie hat es auch zu mir gesagt, aber wir wussten beide, dass es eine Lüge war, vielleicht ein verzweifelter Wunsch, aber ganz und gar unrealistisch. Ich liebte meine Kollegin und meine Schwester, und meine Mutter hatte ich auch geliebt, obwohl ich sie nie wirklich gekannt hatte.
Aber so etwas wie jetzt hatte ich noch nie gespürt.
Als ich zu sprechen versuchte, war meine Stimme rauh und unsicher, die Worte blieben mir im Hals stecken. Ich hatte feuchte Augen, und mein Herz fühlte sich an, als blute es.
Als ich klein war, liebte ich meinen Vater, aber er tat mir immer nur weh. Er hörte einfach nicht auf damit. Egal wie sehr ich weinte, egal wie sehr ich ihn anflehte, egal wie sehr ich versuchte zu verstehen, was er von mir wollte, was ich tun konnte, um seine Liebe zu verdienen, anstatt Opfer seines Zorns zu sein.
„Ich liebe dich“, sagte ich zu ihm, und er lachte. Und lachte. Und dann schlug er mich noch ein paarmal.
„Ich liebe dich“, sagte ich einmal, als er meinen Kopf gegen eine Tür schlug, da drehte er mich um und spuckte mir ins Gesicht. „Ich hasse dich“, sagte ich ihm ganz ruhig, kurz bevor er starb. Darüber lachte er ebenfalls. „Ein Punkt für den alten Mann.“ „Ich liebe dich“, sagte ich nun zu Grace.
Und sie lachte. Aber es war ein wunderbares Lachen. Ein überraschtes, erleichtertes, befreites Lachen, auf das zwei Tränen folgten, die von ihren Wangen in meine Augen fielen und sich dort mit meinen Tränen vermischten.
„O mein Gott“, stöhnte
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