Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
verrückt, während sie mit der rechten Hand eine Apfelsine knetete.
Ich kannte sie gut genug, um keine Fragen zu stellen.
Auf Zehenspitzen schlich ich an ihnen vorbei, öffnete die erste Tür und machte sie hinter mir wieder zu, als ich den schmalen Flur betrat. Dort stieß ich auf einen weißen Briefumschlag. Das schwarze Gummi unter der Eingangstür sitzt so fest an der Schwelle, dass es leichter wäre, ein Nilpferd in eine Klarinette zu quetschen, als ein Blatt Papier unter der Eingangstür hindurchzuschieben.
Ich sah mir den Umschlag an. Keine Risse oder Falten.
In die Mitte waren die Worte „patrick kenzie“ getippt.
Ich ging zurück in die Eingangshalle, wo Stanis und Liva noch immer in der gleichen Position verharrten wie zuvor: Das Essen dampfte auf ihrer Kleidung, und Liva hielt die Apfelsine umklammert.
„Stanis“, sprach ich ihn an, „haben Sie heute jemandem die Tür geöffnet? Ungefähr in der letzten halben Stunde?“
Er schüttelte den Kopf, wobei etwas Mehl auf den Boden rieselte, wandte den Blick aber nicht von seiner Frau ab. „Die Tür aufgemacht? Einem Fremden? Ich bin nicht verrückt!“ Er wies auf Liva. „Sie ist verrückt.“
„Ich werd’s dir zeigen“, rief sie und warf ihm die Orange an den Kopf.
Ich hörte ihn aufschreien, machte mich davon und schloss die Tür hinter mir.
Dann stand ich im Flur, den Briefumschlag in der Hand, und fühlte im Magen eine zähe Angst aufsteigen, konnte jedoch den Grund nicht genau benennen.
Warum? flüsterte eine Stimme.
Dieser Umschlag. Dieser Zettel mit dem „HI!“. Diese Aufkleber. Nichts davon bedroht mich, flüsterte die Stimme. Zumindest nicht offenkundig. Nur Wörter und Papier.
Ich öffnete die Tür und trat auf die Veranda. Gegenüber von mir auf dem Schulhof war gerade Pause. Nonnen jagten Kinder in die Ecke des Hofes, wo man Himmel und Hölle spielen konnte, und ich sah, wie ein Junge ein Mädchen an den Haaren zog, das mich an Mae erinnerte, so wie sie mit leicht seitlich geneigtem Kopf dastand, als verrate ihr die Luft ein Geheimnis. Als sie der Junge an den Haaren zog, schrie sie auf und schlug sich an den Hinterkopf, als würde sie von Fledermäusen angegriffen, und der Junge rannte zu seinen Freunden hinüber. Das Mädchen hörte auf zu kreischen und sah sich um, verwirrt und allein, und ich wollte hinüberlaufen, den kleinen Dreckskerl fangen und ihn an den Haaren ziehen, damit er sich genauso verwirrt und einsam fühlte, selbst wenn ich in seinem Alter selbst wohl hundertmal dasselbe getan hatte wie er.
Ich nehme an, mein Gefühl hatte etwas mit dem Älterwerden zu tun, mit der Einsicht, dass Gewalt gegen Kinder nur sehr selten unwillkürlich geschieht, und dem Wissen,
dass jeder noch so kleine Schmerz das Reine und unendlich Zerbrechliche in einem Kind verletzt und zerstört.
Vielleicht hatte ich aber auch einfach nur schlechte Laune. Ich sah den Briefumschlag in meiner Hand an, und etwas sagte mir, dass ich nicht allzu viel Lust hatte, seinen Inhalt zu lesen. Ich tat es trotzdem. Als ich ihn gelesen harte, betrachtete ich die Eingangstür aus eindrucksvoll schwerem Holz mit dem Glaseinsatz, daneben die Alarmdrähte und die drei in der späten Morgensonne glänzenden Messingschlösser. Sie schienen mich zu verhöhnen. Auf dem Zettel stand:
patrick, vergissnichthochzusehen.

13
    „Pass auf, Mae!“ mahnte Grace.
Wir überquerten die Mass. Ave. Bridge von der Cambridge-Seite aus. Der Charles unter uns glitzerte karamelfarben in der untergehenden Sonne, wir sahen die Harvard-Mannschaft im Boot vorbeifahren, die Ruderblätter schnitten scharf wie Macheten ins Wasser. Mae stand auf dem fünfzehn Zentimeter hohen Bordstein, der den Bürgersteig von der Strasse trennt, mit den Fingern ihrer rechten Hand in meiner versuchte sie die Balance zu halten.
„Smoots?“ fragte sie erneut, ihre Lippen schmatzten das Wort, als wäre es aus Schokolade. „Wieso heißen die Smoots, Patrick?“ „So haben sie die Brücke ausgemessen“, erklärte ich. „Die Studenten von Harvard haben Oliver Smoot benutzt, um die Brücke zu messen, sie haben ihn draufgelegt.“
„Mochten sie ihn nicht?“ Sie sah mit verdunkeltem Blick auf die nächste Smoot-Marke.
„Doch, sie mochten ihn. Es war nur ein Spaß.“
„Ein Spiel?“ Sie schaute mir ins Gesicht und lachte.
Ich nickte. „So haben sie die Messung in Smoots ins Leben gerufen.“
„Smoots“, wiederholte sie und kicherte. „Smoots.“
Ein Lkw fuhr vorbei und erschütterte die Brücke unter

Weitere Kostenlose Bücher