Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
einer kleinen Wolke von Gras und Staub übereinander.
„Wie lange sind Sie schon verheiratet?“ wollte die Frau wissen. Bevor ich antworten konnte, kniff mir Grace mit den Fingern in den Oberschenkel.
„Fünf Jahre“, erwiderte sie.
„Sie sehen aus wie frisch verheiratet“, meinte die Frau.
„Sie auch.“
Der Mann lachte, und seine Frau stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Wir fühlen uns wie frisch verheiratet“, fügte Grace hinzu. „Stimmt doch, Liebling, oder?“
Gegen acht brachten wir Mae ins Bett, und sie war sofort weg, so sehr hatte unser langer Spaziergang am Fluss und das Herumtollen mit Indy sie erschöpft. Als wir wieder ins Wohnzimmer zurückgingen, fing Grace sofort an aufzuräumen, sie hob Malbücher, Spielzeug, Illustrierte und Horror-Romane vom Boden auf. Die Zeitschriften und die Bücher gehörten nicht Grace, sondern Annabeth. Grace’ Vater starb, als sie noch zum College ging; er hinterließ seinen Töchtern ein bescheidenes Vermögen. Grace verbrauchte ihren Anteil ziemlich schnell, sie zahlte in den letzten beiden Jahren die Gebühren in Yale, die nicht durch ihr Stipendium abgedeckt wurden, und finanzierte dann sich selbst, ihren damaligen Ehemann Bryan und Mae, bevor Bryan sie verließ und Tufts Medical sie für ein Forschungsstipendium annahm.
Die vier Jahre jüngere Annabeth absolvierte ein Jahr an einem College und verpulverte dann den Grossteil ihres Erbes auf einer einjährigen Reise durch Europa. Die Fotos von dieser Tour hatte sie an das Kopfende ihres Bettes und an ihre Frisierkommode geklebt
– sie waren allesamt in Kneipen aufgenommen worden. Wie man sich mit vierzig Riesen durch Europa säuft.
Aber sie kam klasse mit Mae aus. Annabeth sorgte dafür, dass die Kleine rechtzeitig ins Bett kam, dass sie richtig aß und sich die Zähne ordentlich putzte und nur an ihrer Hand die Strasse überquerte. Annabeth ging mit Mae zu Kindergartenaufführungen, ins Kindermuseum, auf den Spielplatz. Sie tat all das, wozu Grace keine Zeit hatte, weil sie neunzig Stunden die Woche arbeitete. Wir räumten die Sachen der beiden auf und machten es uns dann auf der Couch gemütlich. Im Fernsehen gab es nichts, was sich anzusehen lohnte. Bruce Springsteen hatte recht: 57 Kanäle und nichts drin.
Also schalteten wir den Fernseher aus und setzten uns so hin, dass wir uns ansehen konnten. Sie erzählte mir von den letzten drei Tagen in der Notaufnahme, dass immer mehr Verletzte reingebracht wurden, dass sich die Körper auf den Bahren stapelten wie Klafterholz in einer Skihütte, dass der Geräuschpegel den eines Heavymetal-Konzerts erreichte, dass eine alte Frau, die bei einem Handtaschendiebstahl umgestoßen worden und mit dem Kopf auf den Bürgersteig gefallen war, Grace’ Hand gehalten hatte und einfach so gestorben war, während ihr lautlos die Tränen das Gesicht hinunterliefen. Sie erzählte von vierzehnjährigen Bandenmitgliedern mit unschuldigem Gesicht, denen das Blut aus der Brust strömte wie aus einem Farbtopf, während die Ärzte versuchten, das Leck zu stopfen. Von einem Baby, dessen linker Arm dreimal am Ellenbogen gebrochen und am Schultergelenk nach hinten gedreht worden war und dessen Eltern behaupteten, es sei hingefallen. Von einer kreischenden Cracksüchtigen, die mit den Krankenpflegern kämpfte, weil sie die nächste Ration brauchte und es ihr scheißegal war, dass die Ärzte ihr erst das Messer, das in ihrem Auge steckte, entfernen wollten.
„Und meinen Job findest du brutal?“ fragte ich.
Sie lehnte ihre Stirn gegen meine. „Noch ein Jahr, dann bin ich in der Kardiologie. Noch ein Jahr.“ Sie lehnte sich zurück, nahm meine Hände in ihre und legte sie in ihren Schoss. „Dieses Mädchen, das im Park umgebracht wurde“, wollte sie wissen, „hat die was mit dem anderen Fall zu tun?“
„Wie kommst du darauf?“
„Nur so. War nur eine Frage.“
„Nein. Wir haben den Warren-Fall nur zufällig zu der Zeit angenommen, als Kara umgebracht wurde. Warum meinst du das?“ Sie fuhr mir mit den Händen die Arme hoch. „Weil du angespannt bist, Patrick. So habe ich dich noch nicht erlebt.“
„Wieso?“
„Ach, du überspielst es gut, aber ich spüre es an deinem Körper, ich sehe es daran, wie du stehst, als ob du erwartest, jeden Moment von einem Lkw umgefahren zu werden.“ Sie küsste mich. „Irgendwas hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht.“
Ich dachte an die letzten elf Tage. Ich hatte mit drei geisteskranken Mafiosi (vier, wenn man Pine dazuzählte) an einem

Weitere Kostenlose Bücher