Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
Vom Netzwerk:
weiteren Schnaps herunter und betrachtete mich mit klarem, festem Blick. „Wenn du davon ausgehst, dass das Leben eines Opfers mehr wert ist als das eines Mörders, und dann losgehst und den Mörder umbringst, ist dann dein Leben nicht auch weniger wert als das des Mörders, den du umgebracht hast?“
„Was soll das, Gerry?“ wehrte ich mich. „Spielst du jetzt den Jesuiten? Willst du mich in Syllogismen einwickeln?“
„Beantworte meine Frage, Patrick! Weich mir nicht aus!“ Selbst als ich noch ein Kind war, hatte ich das Gefühl, dass Gerry immer schon irgendwie entrückt war. Er lebte einfach nicht auf derselben Stufe wie wir. Man spürte, dass ein Teil von ihm in dem spirituellen Nebel schwebte, von dem die Priester behaupten, er befände sich nur eine Stufe höher als unser normales Bewusstsein. Dort entstanden Träume, Kunst, Glaube und göttliche Inspiration. Ich holte mir hinter der Theke noch ein Bier. Gerry verfolgte mich dabei mit seinem ruhigen, gutmütigen Blick. Ich suchte eine Weile im Kühlschrank und fand eine Flasche Harpoon, mit der ich an den Tisch zurückkehrte.
„Wir könnten uns die ganze Nacht darüber streiten, Gerry. In einer Idealwelt, da hättest du vielleicht recht. Aber in dieser Welt, ja, da sind manche Leben sehr viel mehr wert als andere.“ Ich zuckte mit den Achseln, weil er mich erstaunt ansah. „Jetzt bin ich vielleicht ein Faschist, aber ich würde behaupten, dass das Leben von Mutter Teresa mehr wert war als das von AI Capone. Ich würde behaupten, das Leben von Martin Luther King war viel mehr wer als das von Hitler.“
„Interessant.“ Er flüsterte jetzt fast. „Wenn du also in der Lage bist, den Wert eines anderen Menschenlebens einzuschätzen, folgt daraus, dass du selbst diesem Leben überlegen bist.“
„Nicht unbedingt.“
„Bist du besser als Hitler?“
„Auf jeden Fall.“
„Als Stalin?“
„Ja.“
„PolPot?“
„Ja.“
„Als ich?“
„Du?“
Er nickte.
„Du bist doch kein Mörder, Gerry.“
Er zuckte mit den Achseln. „Ist das dein Maßstab? Du bist besser als jemand, der mordet oder Morde anordnet?“
„Wenn diese Morde an Menschen verübt werden, die den Mörder oder die Person, die ihn beauftragt hat, nicht unmittelbar körperlich bedrohen, ja, dann bin ich besser als er.“
„Also bist du Alexander dem Grossen, Caesar, mehreren amerikanischen Präsidenten und einigen Päpsten überlegen.“
Ich lachte. Er hatte mich in die Falle gelockt, und ich hatte es kommen sehen, aber die Richtung hatte ich nicht erahnt.
„Ich hab’s ja gesagt, Gerry, in dir steckt ein Jesuit.“
Er grinste und rieb sich den stoppeligen Kopf. „Ich gebe es zu, sie haben mir einiges beigebracht.“ Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor. „Ich kann nur diese Theorie nicht ertragen, dass manche Menschen mehr Recht haben als andere, jemandem das Leben zu nehmen. Das ist eine ganz und gar korrupte Theorie. Wer tötet, muss bestraft werden.“
„Wie Alec Hardiman?“
Er blinzelte. „In dir steckt ein Pitbull, Patrick, stimmt’s?“
„Wenn mich meine Klienten dafür bezahlen, Gerry.“ Ich füllte ihm das Schnapsglas erneut. „Erzähl mir von Alec Hardiman, Cal Morrison und Jamal Cooper.“
„Vielleicht hat Alec Cal Morrison umgebracht und Cooper auch, das weiß ich nicht genau. Aber wer immer diese Typen gekillt hat, der wollte damit etwas sagen, soviel ist sicher. Morrison wurde unter dem Edward-Everett-Standbild gekreuzigt, ihm war ein Eispickel durch den Kehlkopf gestoßen worden, so dass er nicht schreien konnte, der Mörder hat ihm ein paar Körperteile abgeschnitten, die nie gefunden wurden.“
„Welche?“
Gerrys Finger trommelten kurz auf der Tischfläche, und er verzog die Lippen, als überlegte er sich, wieviel er mir zumuten könne. „Die Hoden, eine Kniescheibe, beide großen Zehen. Das passte zu einigen anderen Opfern, von denen wir wussten.“
„Andere Opfer außer Cooper?“
„Nicht lange bevor Cal Morrison umgebracht wurde“, erklärte Gerry, „wurden ein paar Penner und Nutten in der Gegend vom ehemaligen Sperrgebiet bis hinunter zum Springfield Busdepot ermordet. Insgesamt sechs, Jamal Cooper war der erste. Die Mordwerkzeuge variierten, die Vorgehensweise und die Exekutionsmethoden auch, aber Brett und ich waren überzeugt, dass es sich in allen Fällen um die zwei selben Mörder handelte.“
„Zwei?“ hakte ich nach.
Er nickte. „Die arbeiteten im Team. Theoretisch hätte es auch einer gewesen sein können, aber der hätte

Weitere Kostenlose Bücher