Absender unbekannt
war er zehn Zentimeter kleiner als sein Gast, doch spürte dieser, so betrunken er auch war, wie schnell diese Freundlichkeit verschwinden konnte, wenn er es darauf anlegte.
„Wollte nur was trinken“, murmelte er.
„Ich weiß“, erwiderte Gerry. „Aber ich kann dir nichts geben. Hast du Geld für ein Taxi? Wo wohnst du?“
„Wollte nur was trinken“, wiederholte der Typ. Er blickte zu mir hoch, und Tränen rannen ihm die Wangen hinunter; eine feuchte Zigarette hing schlaff im Mundwinkel. „Ich wollte nur…“
„Wo wohnst du?“ fragte Gerry erneut.
„Hm? Lower Mills.“ Er schniefte.
„Du kannst in diesem Aufzug in Lower Mills rumlaufen, ohne dass dir einer in den Arsch tritt?“ Gerry grinste. „Dann muss sich da in den letzten zehn Jahren aber viel geändert haben.“
„Lower Mills“, schluchzte der Typ.
„Junge“, beruhigte ihn Gerry, „pssst! Ist schon gut. Alles in Ordnung. Du gehst jetzt hier raus, dann nach rechts, ein paar Häuser weiter steht ein Taxi. Der Taxifahrer heißt Achal, er ist bis Punkt drei Uhr da. Sag ihm, er soll dich nach Lower Mills fahren.“ „Ich hab kein Geld.“
Gerry klopfte dem jungen Mann auf die Hüfte. Als er die Hand wieder wegzog, steckte eine Zehn-Dollar-Note im Hosenbund. „Sieht aus, als hättest du noch einen Zehner übrig.“
Der Typ blickte auf seinen Hosenbund. „Meiner?“
„Meiner ist es nicht. Los, jetzt geh zum Taxi. Okay?“
„Okay.“ Gerry führte den schniefenden jungen Mann zum Ausgang, wo dieser sich plötzlich umdrehte und Gerry, so gut er konnte, in den Arm nahm.
Gerry kicherte. „Schon gut. Schon gut.“
„Ich liebe dich, Mann!“ sagte der Typ. „Ich liebe dich!“
Draußen hielt ein Taxi am Strassenrand. Gerry nickte dem Fahrer zu und löste sich. „Los, jetzt geh! Los!“
Patton senkte den Kopf, rollte sich auf der Theke zusammen und schloss die Augen. Ich kraulte ihm die Nase, worauf er zärtlich gegen meine Hand stupste. Er schien mich schläfrig anzugrinsen. „Ich liebe dich!“ grölte der junge Mann, während er nach draußen stolperte.
„Ich bin gerührt“, erwiderte Gerry. Er schloss die Eingangstür. Draußen hörten wir, wie das Taxi auf der Strasse wendete und in Richtung Lower Mills fuhr. „Tief gerührt.“ Gerry verschloss die Tür, sah mich mit erhobenen Augenbrauen an und fuhr sich mit der Hand durch die rostroten Haarstoppeln.
„Immer noch jedermanns Freund und Helfer“, bemerkte ich. Er zuckte mit den Achseln und legte dann die Stirn in Falten. „Hab ich das bei dir in der Schule erzählt? Die Sache mit dem Freund und Helfer?“
Ich nickte. „Zweite Klasse auf St. Bart’s.“
Er trug Flasche und Schnapsglas zu einem Tisch neben der Jukebox, und ich folgte ihm, ließ mein Glas aber in zwei Metern Entfernung auf der Theke stehen, wo es hingehörte. Patton blieb ebenfalls dort liegen, mit geschlossenen Augen, und träumte von großen Katzen.
Gerry lehnte sich auf dem Stuhl zurück, streckte sich und gähnte laut. „Weißt du was? Jetzt kann ich mich wieder erinnern. „ „O bitte“, stöhnte ich. „Das ist mehr als zwanzig Jahre her.“ „Hm.“ Er setzte sich wieder normal hin und schenkte sich noch einen Schnaps ein. Ich hatte sechs Schnäpse gezählt, konnte aber nicht die geringste Wirkung erkennen. „Aber die Klasse damals war schon etwas Besonderes“, sagte er und hielt mir prostend das Glas entgegen. „Du warst da drin und Angela und dieser Trottel, den sie geheiratet hat, wie hieß der noch mal?“
„Phil Dimassi.“
„Stimmt, Phil.“ Er schüttelte den Kopf. „Dann gab’s da noch diesen Spinner Kevin Hurlihy und diesen anderen schrägen Vogel, Rogowski.“
„Bubba ist in Ordnung.“
„Ich weiß, dass ihr Freunde seid, Patrick, aber pass mal auf! Er steht in mindestens sieben ungelösten Fällen unter Mordverdacht.“ „Bestimmt echt nette Leute, die Opfer.“
Gerry zuckte mit den Achseln. „Mord ist Mord. Wenn man jemandem ohne Grund das Leben nimmt, sollte man bestraft werden. So einfach ist das.“
Ich nippte an meinem Bier und blickte auf die Jukebox.
„Bist du anderer Meinung?“
Ich streckte die Hände aus und lehnte mich zurück. „Früher nicht. Aber manchmal, ich meine, hör mal, Gerry, Kara Riders Leben war mehr wert als das Leben ihres Mörders. „„„Wunderschön“, erwiderte er und lächelte mich düster an. „Ein Musterbeispiel utilitaristischer Logik, ein Grundstein der meisten faschistischen Ideologien, wenn ich das bemerken darf.“ Gerry schüttete einen
Weitere Kostenlose Bücher