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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Schlafzimmer aufgestellt hatte – diese einfache Beschäftigung, für einen anderen, für einen kleineren Menschen zu sorgen, war nützlicher als tausend Stunden beim Psychiater. Ich fragte mich, ob die Menschen früher, für die das ganz selbstverständlich war, nicht doch recht gehabt hatten. Mitten in der Geschichte fielen ihr die Augen zu. Ich zog ihr die Bettdecke hoch bis ans Kinn und legte das Buch zur Seite. „Hast du Mami lieb?“ fragte sie.
„Ich hab Mami lieb. Jetzt schlaf schön.“
„Mami hat dich auch lieb“, murmelte sie.
„Ich weiß. Jetzt schlaf schön.“
„Hast du mich lieb?“
Ich küsste sie auf die Wange und strich noch einmal über die Decke. „Du bist wunderbar, Mae.“
Aber sie war schon eingeschlafen.
Gegen elf Uhr meldete sich Grace.
„Was macht mein kleiner Teufel?“
„Schläft tief und fest.“
„Ich hasse das. Wochenlang benimmt sie sich bei mir wie eine Kratzbürste, und wenn sie einen Tag bei dir ist, spielt sie das Engelchen.“
„Tja“, erwiderte ich, „ist halt viel lustiger bei mir.“
Sie kicherte. „Jetzt echt: War sie lieb?“
„Klar.“
„Geht’s dir besser wegen Jason?“
„Solange ich nicht darüber nachdenke.“
„Hab verstanden. Ist alles klar wegen letztens nachts?“
„Mit uns?“ fragte ich.
„Ja.“
„War da was?“
Sie seufzte. „Du Arsch!“
„He!“
„Ja?“
„Ich liebe dich.“
„Ich liebe dich auch.“
„Schön, oder?“ sagte ich.
„Das Schönste überhaupt“, antwortete sie.
Am nächsten Morgen, als Mae noch schlief, ging ich nach draußen auf die Veranda vor der Haustür und sah Kevin Hurlihy auf der Strasse stehen. Er lehnte sich gegen den goldfarbenen Diamante, den er für Jack Rouse fuhr.
Seit ich von meinem Brieffreund den Zettel mit der Botschaft „vergissnichthochzusehen“ bekommen hatte, trug ich meine Pistole ständig bei mir. Selbst wenn ich nach unten ging, um die Post zu holen. Oder ganz besonders dann, wenn ich nach unten ging, um die Post zu holen.
Als ich also nach draußen auf die Veranda trat und den irren Kevin vom Bürgersteig zu mir heraufblicken sah, versicherte ich mich, dass wenigstens meine Waffe in Reichweite war. Glücklicherweise war es meine 6,5-Millimeter-Beretta mit dem Fünfzehn-SchussMagazin, denn bei Kevin hatte ich das Gefühl, ich würde jede Kugel brauchen.
Er starrte mich sehr lange an. Schließlich setzte ich mich auf die oberste Stufe, öffnete die drei Briefe, die ich erhalten hatte, und blätterte durch die letzte Ausgabe des Musikmagazins Spin. Ich überflog einen Artikel über die Band Machinery Hall.
„Hörst du auch Machinery Hall, Kev?“ fragte ich schließlich. Kevin guckte nur und atmete durch die Nase.
„Gute Gruppe“, bemerkte ich. „Lohnt sich, die CD zu kaufen.“ Kevin sah nicht gerade aus, als würde er nach unserer Plauderei bei Tower Records vorbeifahren.
„Klar, die haben ein bisschen was von einem Imitat, aber wer imitiert heutzutage nicht irgendwen.“
Kevin sah nicht so aus, als wüsste er, was imitieren bedeutet. Zehn Minuten lang stand er da, ohne ein Wort zu sagen, die ganze Zeit behielt er mich im Blick, und sein Blick war düster und trüb wie Sumpfwasser. Ich schätze, es handelte sich hier um den morgendlichen Kevin. Der nächtliche Kevin hatte einen elektrisierten Blick, die Augen schienen vor Vorfreude auf den nächsten Mord zu glänzen. Der morgendliche Kevin sah aus, als verfalle er bald dem Stumpfsinn.
„Tja, Kev, dann würde ich behaupten, du bist kein großer Fan von Independent.“
Kevin zündete sich eine Zigarette an.
„War ich früher auch nicht, aber meine Kollegin hat mich nach und nach überzeugt, dass es mehr gibt als die
Stones und Springsteen. Vieles ist natürlich gequirlter Dünnschiss, und ‘ne Menge wird einfach überschätzt, das ist schon klar. Ich meine, erklär mir mal Morrissey. Aber dann kommt so ein Kurt Cobain daher oder ein Trent Reznor, und du denkst: Die Typen bringen es, und dann hat man schon wieder Hoffnung. Vielleicht irre ich mich auch. Ach ja, Kev, was hast du eigentlich von Kurts Tod gehalten? Warst du der Meinung, unsere Generation hat ihr Sprachrohr verloren, oder war das für dich schon der Fall, als sich Frankie Goes to Hollywood aufgelöst hat?“
Ein scharfer Wind wehte die Strasse hinunter, und als Kevin sprach, klang seine Stimme nach nichts, nach einem hässlichen seelenlosen Nichts.
„Kenzie, vor ein paar Jahren hat ein Typ Jackie mehr als vierzig Riesen abgezockt.“
„Das Ding kann ja reden!“

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