Absender unbekannt
offene Küchenfenster hereinfegte. Klar: Um neun Uhr legt Waylon los.
Ich blickte auf die Uhr. Punkt neun.
Sofort lief ich nach draußen auf die rückwärtige Veranda. Lyle arbeitete am Haus nebenan und drehte das Radio leiser, als er mich sah.
„Hey, Patrick, wie geht’s dir, Junge?“
„Lyle“, sagte ich, „die Tochter von meiner Freundin schläft heute bei mir. Könntest du es vielleicht so leise lassen?“
„Na klar, mein Junge. Sicher.“
„Danke“, erwiderte ich. „Wir kratzen bald die Kurve, dann kannst du die Musik ja wieder aufdrehen.“
Er zuckte mit den Achseln. „Bin heute selber nur ein paar Stunden hier. Hab ‘nen kaputten Zahn, der mich die ganze Nacht wach gehalten hat.“
„Zum Zahnarzt?“ fragte ich und kniff die Augen zusammen. „Jawohl“, bestätigte er trübe. „Ich hasse diese Schweine, letzte Nacht habe ich selbst versucht, den Zahn mit einer Zange rauszuziehen, aber das Miststück hat sich nur ‘n bisschen bewegt. Außerdem wurde die Zange ganz glitschig von dem ganzen Blut und, na ja…“
„Viel Glück beim Zahnarzt, Lyle!“
„Danke“, gab er zurück. „Eins sag ich dir, der Hund gibt mir keine Betäubungsspritze. Der alte Lyle kippt sofort um, wenn er ‘ne Nadel sieht. Ganz schöner Feigling, was?“
Klar, Lyle, dachte ich. Ein Riesenschißer. Zieh dir doch noch ein paar mehr Zähne mit der Zange, und niemand wird noch von was anderem reden als davon, was für ein Schlappschwanz du bist. Ich ging zurück ins Schlafzimmer. Mae war weg.
Der Schnuller lag am Fußende meines Bettes, und Miss Lilly, ihre Puppe, lag oben auf dem Reisebett und starrte mich mit toten Puppenaugen an.
Dann hörte ich die Toilettenspülung. Als ich in den Gang trat, kam Mae gerade aus dem Badezimmer und rieb sich die Augen. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals. Am liebsten wäre ich auf die Knie gefallen vor Erleichterung.
„Ich hab Hunger, Patrick!“ sagte sie und ging in ihrem MickymausSchlafanzug mit den angenähten Füssen in die Küche.
„Apple Jacks oder Sugar Pops?“ brachte ich heraus.
„Sugar Pops.“
„Okay, dann gibt es Sugar Pops.“
Während sich Mae im Badezimmer anzog und die Zähne putzte, rief ich Angie an.
„Hey“, sagte sie.
„Wie geht’s?“
„Ach… ganz gut. Rede mir immer noch ein, dass wir alles getan haben, um Jason zu schützen. Hast du was über Eric herausgefunden?“ erkundigte ich mich.
„Ein bisschen. Vor fünf Jahren, als Eric noch Teilzeit an der Uni von Massachusetts in Boston unterrichtete, zog ein Stadtrat von Jamaica Plain namens Paul Hobson gegen die Uni und Eric vor Gericht.“ „Weswegen?“
„Keine Ahnung. Alle die Sache betreffenden Dokumente sind versiegelt. Sieht nach einer aussergerichtlichen Einigung aus, woraufhin alle Redeverbot bekommen haben. Aber Eric hat die Uni von Massachusetts danach verlassen.“
„Sonst noch was?“
„Bis jetzt nicht, aber ich suche weiter.“
Ich erzählte ihr von meiner Begegnung mit Kevin.
„Du hast ihm das Autofenster eingeschossen, Patrick? O Gott!“ „Ich war ein bisschen durcheinander.“
„Ja, aber ihm gleich das Fenster zerschießen?“
„Angie“, erklärte ich, „er hat Mae und Grace bedroht! Wenn er das nächste Mal wieder so was Dummes sagt, vergesse ich vielleicht einfach das Auto und schieße auf ihn.“
„Das wird Rache geben“, prophezeite sie.
„Darüber bin ich mir im klaren.“ Ich seufzte und fühlte den Druck hinter meinen Augen, spürte den Geruch von Angst in meinem Hemd. „Bolton hat mich zum JFK-Gebäude bestellt.“
„Mich auch?“
„Von dir war nicht die Rede.“ „Gut.“
„Ich weiß nicht, was ich mit Mae machen soll.“ „Ich kann sie nehmen“, schlug Angie vor. „Echt?“
„Ja, gerne. Bring sie vorbei. Ich gehe mit ihr auf den Spielplatz auf der anderen Straßenseite.“
Ich rief Grace an und erzählte ihr, dass bei mir etwas dazwischengekommen sei. Sie fand es eine gute Idee, dass Mae mit Angie spielte, solange es Angie nichts ausmachte.
„Sie freut sich drauf, glaub mir.“
„Toll. Wie geht’s dir?“
„Gut. Warum?“
„Weiß nicht“, erwiderte sie. „Du klingst etwas unsicher.“
Das kommt von Menschen wie Kevin, dachte ich.
„Mir geht’s gut. Wir sehen uns später.“
Als ich auflegte, kam Mae in die Küche.
„Hey, Kumpel“, rief ich, „gehen wir auf den Spielplatz?“
Sie lachte. Es war das Lächeln ihrer Mutter: arglos, offen und direkt. „Spielplatz? Gibt’s da Schaukeln?“
„Klar gibt’s da Schaukeln. Sonst war’s ja kein richtiger
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