Absender unbekannt
ließ die Hände auf der Theke und senkte den Kopf. „Wie hat sich Diandra verhalten, seit sie Bescheid weiß?“
„Ruhig.“
Er nickte. „Das passt zu ihr. Habt ihr Stan Timpson benachrichtigt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich nehme an, das macht die Polizei.“ Seine Augen füllten sich mit Tränen. „Der Junge, der arme, schöne Junge.“
„Erzähl’s mir!“ forderte ich ihn auf.
Er blickte an mir vorbei auf den Kühlschrank. „Was soll ich erzählen?“
„Was du über Jason weißt. Was du die ganze Zeit verheimlicht hast.“
„Verheimlicht?“ Seine Stimme war brüchig.
„Verheimlicht“, wiederholte ich. „Du hast dich in dieser Sache von Anfang an unwohl gefühlt.“
„Welche Grundlage hast du für…“
„Nur eine Ahnung, Eric. Was hast du heute Abend an der Uni gemacht?“
„Hab ich dir gesagt. Sprechstunde.“
„Quatsch. Ich habe die Bücher gesehen, die du aus dem Auto geholt hast. Eins war ein Reiseführer, Eric.“
„Pass auf!“ lenkte er ab. „Ich gehe jetzt zu Diandra. Ich weiß, was mit ihr passiert, und ich bin der Meinung, dass Angie und du jetzt besser geht. Sie will bestimmt nicht, dass ihr dabei seid, wenn sie zusammenbricht.“
Ich nickte. „Ich melde mich.“
Er rückte die Brille zurecht und ging an mir vorbei. „Ich sorge dafür, dass eure Rechnung voll bezahlt wird.“
„Wir haben unser Geld schon bekommen, Eric.“
Er ging quer durch den Loft zu Diandra, und ich warf Angie einen Blick zu und machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung Wohnungstür. Angie hob ihre Tasche hoch und nahm die Jacke von der Couch, während Eric Diandra die Hand auf die Schulter legte. „Eric“, stöhnte sie. „Oh, Eric. Warum? Warum?“
Diandra fiel von der Fensterbank in Erics Arme. Als ich Angie die Tür öffnete, heulte Diandra Warren wie ein Wolf. Es war einer der schlimmsten Laute, die ich je gehört hatte, ein tobendes, gequältes, rasendes Geräusch, das sich ihrer Brust entrang und in dem Loft widerhallte. Noch lange nachdem ich das Haus verlassen hatte, dröhnte es in meinem Kopf.
Im Fahrstuhl sagte ich zu Angie: „Mit Eric stimmt was nicht.“ „Was denn?“
„Irgend etwas“, wiederholte ich. „Er hat Dreck am Stecken. Oder er verheimlicht etwas.“
„Und was?“
„Keine Ahnung. Er ist ein Freund von uns, Ange, aber mir gefällt nicht, dass ich so ein komisches Gefühl bei ihm habe.“
„Ich kümmere mich drum“, willigte sie ein.
Ich nickte. Noch immer hatte ich Diandras furchtbares Heulen im Ohr. Ich wollte mich einfach nur hinlegen, mich zusammenrollen und nichts mehr davon hören.
Angie lehnte sich gegen die gläserne Aufzugwand und schlang die Arme um sich. Auf der Fahrt nach Hause sprachen wir kein einziges Wort.
Eine Sache, die man lernt, wenn man mit Kindern zu tun hat, ist wohl, dass man immer weitermachen muss, egal was passiert. Man hat keine Wahl. Lange vor Jasons Tod, bevor ich überhaupt von ihm und seiner Mutter wusste, hatte ich mich einverstanden erklärt, eineinhalb Tage auf Mae aufzupassen, da Grace arbeiten musste und Annabeth eine alte Freundin in Maine besuchen wollte, die sie noch vom College kannte.
Als Grace von Jason hörte, meinte sie: „Ich kann jemand anders besorgen. Oder ich nehm mir irgendwie frei.“
„Nein“, widersprach ich. „Es bleibt dabei. Ich will sie nehmen.“ Das tat ich auch. Und es war eine der besten Entscheidungen, die ich je getroffen hatte. Ich weiß, dass uns gesagt wird, es sei gut, über schlimme Erfahrungen zu sprechen, sie mit Freunden oder qualifizierten Außenstehenden zu erörtern, und vielleicht stimmt das auch. Aber ich denke oft, dass wir in dieser Gesellschaft einfach viel zuviel reden, dass wir die Verbalisierung als ein Allheilmittel ansehen,
das sie oft nicht ist, dass wir dieser krankhaft übersteigerten Selbstbeschäftigung gegenüber blind sind, die das viele Reden unabdingbar mit sich bringt.
Ich neige sowieso schon zum Grübeln und verbringe viel Zeit allein, was alles nur noch schlimmer macht, und vielleicht hätte es etwas genützt, wenn ich mit jemandem über Jasons Tod und meine Schuldgefühle gesprochen hätte. Tat ich aber nicht.
Statt dessen verbrachte ich den Tag mit Mae. Die simple Beschäftigung, auf sie aufzupassen, sie zu unterhalten, zu füttern, zum Mittagsschlaf hinzulegen, ihr die Spaße der Marx Brothers zu erklären, als wir uns Animal Crackers und Die Marx Brothers im Krieg ansahen, ihr eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, als sie sich in ihr Reisebettchen legte, das ich im
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