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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Spielplatz.“ „Gibt’s da auch ein Klettergerüst?“
„Ja, das gibt’s da auch.“
„Gibt’s da auch ‘ne Achterbahn?“
„Noch nicht“, antwortete ich, „aber ich mache dem Management einen Vorschlag.“
Sie schlüpfte in die Turnschuhe, kletterte gegenüber von mir auf den Stuhl und legte ihre Beine auf meinen Stuhl. „Gut“, sagte sie. „Mae“, sprach ich sie an, während ich ihr die Schuhe
band, „ich muss mich aber mit einem Freund treffen und kann dich nicht mitnehmen.“
Der Anflug von Verwirrung und Verlassenheit in ihren Augen brach mir das Herz.
„Aber“, fuhr ich eilig fort, „du kennst doch meine Freundin Angie? Sie möchte gerne mit dir spielen.“
„Wieso?“
„Sie mag dich. Und sie mag Spielplätze.“
„Sie hat schöne Haare.“
„Ja, das stimmt.“
„Schön schwarz und schön lockig, die find ich toll.“
„Ich werd’s ihr sagen, Mae.“
„Patrick, warum hast du angehalten?“ fragte Mae.
Wir standen an der Ecke Dorchester Avenue und Howes Street. Auf der anderen Straßenseite sah man den Ryan-Spielplatz. Die Howes Street abwärts war Angies Haus zu sehen.
Und Angie, die davorstand. Die in diesem Moment ihren Exmann Phil auf die Wange küsste.
Ich merkte, wie sich etwas in meiner Brust für einen Augenblick zusammenkrampfte.
„Angie!“ rief Mae.
Angie drehte sich um, und Phil tat es ihr nach. Ich kam mir wie ein Spanner vor. Ein wütender Spanner mit gewalttätigen Gedanken. Die beiden überquerten die Strasse und kamen zusammen zur Kreuzung. Sie sah wie immer wunderbar aus in ihrer Jeans, dem lila T-Shirt und der über die Schulter geworfenen schwarzen Lederjacke. Ihr Haar war noch nass, und eine einzelne Strähne hatte sich hinter ihrem Ohr gelöst und umspielte nun ihren Wangenknochen. Sie schob sie zurück, während sie näher kam und Mae zuwinkte. Leider sah Phil ebenfalls gut aus. Angie hatte mir erzählt, dass er zu trinken aufgehört hatte, und das zeigte inzwischen Wirkung. Seit unserem letzten Treffen hatte er mindestens zwanzig Kilo abgenommen, sein Gesicht war glatt und straff, die Augen nicht mehr verquollen, wie sie es die letzten fünf Jahre gewesen waren. Er bewegte sich locker in einem weißen Hemd und einer gebügelten anthrazitfarbenen Hose, die zu seinem aus der Stirn gekämmten Haar passte. Er sah fünfzehn Jahre jünger aus, seine Pupillen leuchteten so wie damals, als er ein Kind war.
„Hey, Patrick!“ grüsste er.
Er blieb an der Bordsteinkante stehen und legte die Hand aufs Herz.
„Ist sie das?“ fragte er. „Ist sie das? Ist das die große, unvergessliche, weltberühmte Mae?“
Er hockte sich neben sie, und sie lächelte breit.
„Ich bin Mae“, sagte sie schüchtern.
„Es ist mir ein Vergnügen, Mae!“ erwiderte er und schüttelte ihr förmlich die Hand. „Ich wette, du verwandelst jeden Tag Frösche in Prinzen. Du bist ja wirklich was ganz Besonderes.“
Sie blickte neugierig und leicht verwirrt zu mir hoch, doch an ihrem geröteten Gesicht und ihren funkelnden Augen konnte ich erkennen, dass Phil sie bereits verzaubert hatte.
„Ich bin Mae“, sagte sie erneut.
„Und ich bin Phillip“, stellte er sich vor. „Passt der Typ ordentlich auf dich auf? „
„Das ist mein Freund“, sagte Mae. „Das ist Patrick.“
„‘nen besseren Freund gibt’s gar nicht“, erwiderte Phil.
Man musste Phil gar nicht von früher kennen, um sein Einfühlungsvermögen in Menschen jeder Altersklasse zu erkennen. Selbst als er so viel trank und seine Frau verprügelte, war diese Fähigkeit nicht verschwunden. Seit Phil aus dem Kinderbett geklettert war, hatte er diese Gabe besessen. Sie war nicht aufgesetzt oder bewusst gesteuert. Er besaß die einfache, aber seltene Fähigkeit, seinem Gesprächspartner das Gefühl zu vermitteln, dass er der einzige Mensch auf diesem Planeten sei, der seine Aufmerksamkeit verdient habe, dass seine Ohren nur dazu bestimmt seien, den Worten seines Gegenübers zu lauschen, dass seine Augen nur die eine Aufgabe hatten, diesen einen Menschen zu sehen. Phil gab jedem Menschen das Gefühl, Phils einziger Daseinsgrund auf dieser Welt sei diese ganz besondere Begegnung mit einem selbst. Das fiel mir erst wieder ein, als ich ihn mit Mae sah. Es war viel leichter, sich ihn als betrunkenes Arschloch vorzustellen, das es irgendwie geschafft hatte, Angie zu heiraten.
Doch Angie war zwölf Jahre lang mit ihm verheiratet gewesen. Auch als er sie schlug. Und dafür hatte es keinen Grund gegeben. Auch wenn Phil ein furchtbares,

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