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Absender unbekannt

Absender unbekannt

Titel: Absender unbekannt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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der Jahre hatte ich wohl Hunderte dieser Flugblätter mit der Post erhalten, und ich sah immer ganz genau hin, nur um mir sicher zu sein, bevor ich sie in dem Müll warf, aber noch nie hatte ich ein Gesicht erkannt. Wenn man sie einmal pro Woche erhielt, konnte man sie leicht vergessen, aber jetzt, als ich sie mit Gummihandschuhen durchblätterte, die so eng waren, dass ich den Schweiß aus den Poren meiner Hand hervortreten spürte, warf es mich um.
Tausende. Einfach fort. Ein ganzes Land. Eine alptraumhafte Ansammlung verlorener Leben. Viele davon waren wohl tot. Andere waren wahrscheinlich gefunden worden, aber es ging ihnen bestimmt schlechter als vorher. Die übrigen waren haltlos ihrem Schicksal überlassen und irrten wie ein Wanderzirkus durch das Land, bewegten sich durch die Herzen unserer Städte, schliefen auf Steinen, Rosten und ausrangierten Matratzen, hohlwangig, fahlhäutig, mit leeren Augen und verfilztem Haar.
„Das ist das gleiche wie die Aufkleber“, sagte Bolton.
„Wieso?“ fragte Oscar.
„Er möchte, dass Kenzie sein postmodernes Unbehagen teilt. Dass die Welt aus den Angeln geraten und nicht wieder einzurenken ist, dass Tausende durcheinanderschreien, ein einziges Stimmengewirr, aber niemand dem anderen wirklich zuhört. Dass unsere Vorstellungen sich ständig widersprechen, dass es keinen festen Stamm von Wissen gibt, an dem alle teilhaben. Dass täglich Kinder verschwinden und wir nur sagen: >Wie furchtbar. Gib mir mal das Salz.<„ Er blickte mich an. „Was meinen Sie?“
„Kann sein.“
Angie schüttelte den Kopf. „Das ist Blödsinn.“
„Wie bitte?“
„Blödsinn“, wiederholte sie. „Vielleicht gehört das auch dazu, aber das ist nur ein Teil seiner Botschaft. Agent Bolton, Sie gehen davon aus, dass wir es mit zwei Mördern zu tun haben, dass wir uns also nicht nur mit dem kleinen Evandro Arujo herumschlagen müssen. Korrekt?“
Er nickte.
„Dieser andere, der wartet, ach was, der lauert seit zwei Jahrzehnten wie ein Virus, bevor er wieder zuschlägt. Das ist doch die vorherrschende Meinung, oder?“
„Ja, stimmt.“
Sie nickte. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und hielt sie hoch. „Ich habe schon mehrmals versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Wissen Sie, wieviel Kraft man dazu braucht?“
„Wissen Sie, wie wohl ich mich heute morgen gefühlt hätte, wenn sie es geschafft hätten?“ Bolton wich dem Rauch aus, der durch die Küche zog.
„Schade.“ Sie zuckte mit den Schulten. „Ich wollte sagen, wir alle haben eine Sucht, bei der wir uns entscheiden müssen. Eine Sache, die uns tief im Innern trifft. Was uns ausmacht, sozusagen. Ohne was könnten Sie nicht leben?“
„Ich?“ fragte er.
„Ja, Sie.“
Er lächelte und schaute peinlich berührt zur Seite. „Bücher. „ „Bücher?“ wiederholte Oscar lachend.
Bolton fuhr ihn an: „Stimmt was nicht damit?“
„Nein, schon gut. Weiter, Agent Bolton!“
„Was für Bücher?“ bohrte Angie nach.
„Die großen Autoren“, erwiderte Bolton ein wenig belämmert. „Tolstoi, Dostojewski, Joyce, Shakespeare, Flaubert. „
„Und wenn die verboten würden?“ fragte Angie weiter.
„Dann würde ich das Gesetz umgehen“, antwortete Bolton. „Sie böser Junge!“ witzelte Devin. „Ich bin bestürzt.“
„Hey!“ Bolton blitzte ihn böse an.
„Was ist mir dir, Oscar?“
„Essen“, entgegnete Oscar und klopfte sich auf den Bauch. „Kein Ökofutter, sondern richtig herzhafte Sachen für den Cholesterinspiegel. Steaks, Spareribs, Eier, panierte Schnitzel.“
„Grosse Überraschung“, lachte Devin.
„Scheiße“, meinte Oscar, „hab gerade wieder Appetit bekommen.“ „Devin?“
„Zigaretten“, gab er zurück, „und wahrscheinlich Alkohol.“ „Patrick?“
„Sex.“
„Du bist ein Schwein, Kenzie!“ schimpfte Oscar.
„Also“, schloss Angie, „diese Sachen halten uns aufrecht, machen uns das Leben lebenswert. Zigaretten, Bücher, Essen, wieder Zigaretten, Alkohol und Sex. Das sind wir.“ Sie tippte auf den Stapel mit den Vermisstenanzeigen. „Und was ist mit ihm? Was braucht er unbedingt?“
„Das Töten“, sagte ich.
„Das schätze ich auch“, stimmte Angie zu.
„Also“, sponn Oscar weiter, „wenn er eine Zwangspause von zwanzig Jahren einlegen musste…“
„Das würde er nie schaffen“, kommentierte Devin, „auf keinen Fall.“ „Aber er hat seine Morde nicht öffentlich gemacht“, widersprach Bolton.
Angie hob den Stapel Papier hoch. „Bis jetzt.“
„Er hat die ganze Zeit Kinder

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