Absolution - Roman
einem kleinen Kratzer in einer Ecke. In Schwarz-Weiß starrte ihre Schwester Nora mit strengem Mund nicht in die Kamera, sondern in die Ferne, herrisch durch eine Hornbrille blickend, die Stirn von einem komischen weißen Hut beschattet, Mode einer viel früheren Zeit. Obwohl Nora zur Zeit der Aufnahme noch nicht in mittlerem Alter war, trug sie ein Kleid mit großen weißen Tupfen auf einem blassen Hintergrund, vielleicht rosa, dachte Clare – mit rosettenförmigen Satinknöpfen. Der Schnitt war nicht für eine junge Frau gemacht – eher altbacken als sittsam. Die Tupfen des Kleids harmonierten mit ihren Perlenohrringen. Nora stand dicht neben einer anderen Frau in einem leichten Mantel mit Fischgrätmuster und einem mit Straußenfedern dekorierten schwarzen Strohhut. Beide wirkten selbstzufrieden, das Kinn vorgereckt, ein Ansatz von Hängebacken schon vorhanden. Clare wusste nicht, wer die andere Frau war; sie waren alle austauschbar, wie sie auf immer gleichen Parteikundgebungen auf den Tribünen saßen. So erinnerte sie sich am liebsten an ihre Schwester, gegen die Geschichte gestemmt, deren Lauf ignorierend, mit zusammengepresstem Mund und gerunzelter Stirn, ein oder zwei Jahre vor ihrer Ermordung. Es war tröstlich, so an sie zu denken, sie sich unverändert und unbeweglich vorzustellen.
Marie war wieder an ihrer Seite, keuchend und nach nassem Gras riechend. »Natürlich musst du jetzt umziehen. Die wissen doch, dass sie hier reinkommen. Es ist zu einfach.«
»Ich werde eine Alarmanlage anschaffen. Bessere Schutzgitter«, protestierte Clare.
»Du brauchst Mauern. In diesem Land kann man ohne Schutzmauern nicht bleiben. Mauern und NATO -Draht, elektrisch geladen. Auch Wachhunde.«
Es gab keinen Zweifel daran, dass Marie diesen Kampf gewinnen würde. Schließlich hatte sie alles riskiert. Man musste Marie, der Assistentin, der Angestellten, der Unentbehrlichen, gestatten, ihre häuslichen Angelegenheiten in Zukunft zu regeln.
»Marie, was war das für ein Auto?«
»Ich habe der Polizei das Kennzeichen gegeben.«
»Aber was für eine Marke? Welches Modell? War es alt oder neu?«
»Neu«, Marie zögerte. »Ein Mercedes.«
»Ja. Ich habe mir schon gedacht, dass es so etwas Ähnliches sein müsste. Du wirst dich morgen mit Immobilienmaklern in Verbindung setzen, nicht wahr?«
CLARE
Du kommst über das Plateau gerannt, gebückt, findest das Loch im Zaun, das du beim Hineinschlüpfen geschnitten hast, hetzt zur Straße hinunter, schälst dich aus der schwarzen Jacke und der schwarzen Hose, darunter Shorts und T-Shirt; du bist eine Rucksacktouristin, vielleicht mit einem künstlichen Akzent, eine Studentin, eine junge Anhalterin. Bald wird der Tag anbrechen. Doch nein, das stimmt nicht, fürchte ich. Vielleicht ist es nicht dort gewesen, nicht diese Stadt, nicht die auf dem Plateau, sondern die weiter aufwärts an der Küste, am Fuß der Berge, und du bist über den Landweg gekommen, um deine Spuren zu verbergen, nicht durch die Stadtmitte, wo jeder dich nachts sehen kann, Männer, die aus der Bar kommen, die sich noch Tage danach an die junge Frau erinnern werden, die – angespannt und entschlossen – allein durch die Nacht geeilt ist. Du hast den Landweg genommen, bergauf, hast die Nordseite der Stadt umrundet, hinan durch den alten hier heimischen Wald. Wie viele Stunden Fußmarsch? Zwölf Kilometer oder mehr, und das nur, wenn du dich nahe an der Straße hieltest. Rennen, spurten, den Berg hinauf und wieder hinunter, rutschen durch waldiges Gelände, die Schonung, die gleichmäßigen Reihen hoher Kiefern, im Karree wachsend, hinein in landwirtschaftlich genutztes Land, ausgedehnte Felder, die Berge hinter dir, das Meer vor dir, und so kommst du herunter zur Kreuzung, wo andere im Licht der Straßenbeleuchtung herumstehen, Frauen und Männer, Kinder, Leute, die auf ein Taxi oder einen Verwandten warten. Eine Alte mit einem auf den Rücken gebundenen Kind klettert über die hintere Stoßstange eines Fahrzeugs und die anderen Fahrgäste helfen ihr hinein, während es wegfährt und geisterhaft entlang der Küstenstraße seine unschuldige Reise fortsetzt.
Und deine Reise – die Flucht, die zur Flucht wird, sobald die Bomben detonieren –, was für eine Reise ist das? Ich habe gehört, dass du dafür verantwortlich warst, doch wie soll ich das mit Sicherheit wissen? Wie soll ich wissen, ob es diese spezielle Explosion gewesen ist oder eine andere, ob die Fremden, die später zu mir kamen, dich vor etwas
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