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Absolution - Roman

Absolution - Roman

Titel: Absolution - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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verstehen?« Ich stelle eine solche Frage nur zögernd; ich weiß, dass sie sich weigert, ihre eigenen Worte zu interpretieren. Einer meiner Kollegen hat einmal an Clare geschrieben und sie gefragt, was sie gemeint hat mit einer bestimmten Passage in einem ihrer Romane, die eine versteckte Anspielung auf Sophokles enthielt. Sie antwortete höflich, doch entschieden: »Der Satz besagt …«, und zitierte die Zeile wörtlich ohne weiteren Kommentar. Der Text enthielt die Bedeutung und sie konnte oder wollte nichts zu seiner Erklärung hinzufügen.
    »Es wäre albern, ihn nicht auf diese Weise zu verstehen, in Anbetracht dessen, was ich gerade gesagt habe.«
    »Sie führen aus, dass institutionalisierte Zensur dazu neigt, ›eher schlichte Geister‹ mit Macht auszustatten, und dass der ideale Zensor, wenn Zensur denn sein muss , so jemand wie Sie sein würde – nachdenklich, gebildet, belesen, ein Rationalist, jemand mit unvoreingenommenem Geist.« Ihr Blick flackert kurz zu mir hoch, als wollte sie mir bedeuten: Versuch es gar nicht erst, Schmeicheln ist nutzlos . Sie legt den Kalender weg und fängt an, Papiere auf ihrem Schreibtisch umzuschichten, sie von einem Stoß auf einen anderen zu legen. Es ist ein Spiel, das mir zeigen soll, wie unwichtig ich bin, dass ihr Geist mehr braucht, um beschäftigt zu werden, als mein oberflächliches Gefrage.
    »Ich glaube nicht, dass das genau meine Worte sind, doch ja, in groben Zügen war das meine Schlussfolgerung«, sagt sie schließlich und wirft mir noch einmal einen schnellen Blick zu, ehe sie wieder auf den Schreibtisch hinunterblickt, beschäftigt mit einem Stapel recycelter Briefumschläge.
    »Das Problem, sagen Sie, sei, dass Menschen wie Sie niemals Zensor sein wollten, weil es keine lästigere Arbeit geben könne, als zur Lektüre von Werken gezwungen zu werden – Bücher, Zeitschriften, Artikel, Gedichte –, die man sich nicht ausgesucht hat. Und man sollte auch meinen, dass es für einen Schriftsteller – besonders einen wie Sie selbst – ein Gräuel wäre, anstößige Werke aufzuspüren und ihre Veröffentlichung zu verhindern.«
    »Wenn man sich jemals auf einen allgemein gültigen Maßstab für Anstoßerregung verständigen könnte.« Wieder ein Hüsteln, ein Räuspern und ein überraschendes, mädchenhaftes Zurückwerfen der Haare, noch ein schneller Blick zum Gärtner und ein missbilligend verzogener Mund. Sie öffnet das Fenster und ruft dem Mann etwas mit Worten zu, die ich nicht verstehe. Es klingt sehr höflich und während sie den Kopf neigt, breitet sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln aus, das echt wirkt. Der Gärtner antwortet, lächelt (nicht so echt, glaube ich), neigt selbst den Kopf und lässt vom Busch ab.
    »Das ist die falsche Jahreszeit dafür. Wenn man die Pflanze im Frühling verschneidet, blüht sie nicht«, murmelt sie vor sich hin und wendet sich wieder meiner Frage zu. »Das waren Miltons Worte – Bücher zu lesen, die man sich nicht ausgesucht hat. ›Unbestreitbar muss jedoch jemand, der zum Richter über Leben und Tod von Büchern berufen ist …, sich mit Notwendigkeit über den gemeinen Durchschnitt erheben, nämlich belesen, gebildet und erfahren sein. Aber wenn er ein so kenntnisreicher Mann ist‹ – oder eine solche Frau, würden wir gern ergänzen –, ›so kann ihm kein langweiligeres und lästigeres Tagewerk … aufgebürdet werden, als immerfort Bücher und Schriften lesen zu müssen, … die er selbst sich nicht ausgesucht hat‹, oder etwas in der Art. Das schien stets ein logisches und beachtenswertes Argument zu sein, wenigstens für mich. Ich glaube, ich habe mich auf ihn berufen.«
    (Später vergleiche ich die Abschrift des Interviews mit Miltons Text und bin beeindruckt von ihrem Gedächtnis für Zitate.)
    »Und Milton führt aus, dass Zensoren typischerweise ›ungebildet‹ und ›herrschsüchtig‹ sind. Würden Sie sagen, das traf auf die Menschen zu, die in diesem Land unter der alten Regierung als Zensoren arbeiteten?« Es ist eine plumpe Frage und ich wollte, ich hätte sie nicht gestellt oder eine andere Formulierung gefunden.
    Sie schweigt, bringt ihre Hände zur Ruhe, hebt den Kopf, schaut mich nur eine Sekunde lang an und dann aus dem Fenster. Irgendetwas ist nicht richtig verstanden worden. Der Gärtner ist zurück am schon gestutzten Busch und schneidet wieder. Clare öffnet das Fenster, ruft ihm etwas zu, mit einer langen Vorrede und Neigen des Kopfes. Darauf eine Rückfrage von ihm, so vermute

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