Absolution - Roman
Gegensatz zu einigen Ihrer Kollegen, die gezwungen wurden, ins Exil zu gehen, hat die alte Regierung Sie relativ ungeschoren gelassen.«
»Relativ ungeschoren. Was für eine vorsichtige Konstruktion.«
»Finden Sie die Beschreibung zutreffend?«
Sie hält inne und sieht an mir vorbei, dann steht sie ohne ein Wort auf und geht aus dem Zimmer. Ich weiß nicht, ob das anzeigen soll, dass das Interview beendet ist, oder ob sie nur etwas holt oder vielleicht zur Toilette geht. Ich habe Hunger und Durst und vergessen, mir etwas zu essen oder zu trinken mitzubringen. Nach zehn Minuten kommt sie mit einem Notizblock zurück und setzt sich ohne Kommentar wieder hin.
»Würden Sie –?«, fange ich an. Sie hebt eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen, blickt auf den Notizblock und beginnt zu sprechen.
»Mir fallen fünf oder sechs andere Schriftsteller ein, deren Werke verboten wurden oder der Zensur anheimfielen, die nicht einmal ihre Manuskripte außer Landes schmuggeln konnten, ohne gewaltige, schwer aufzutreibende Bestechungsgelder zu zahlen, die fliehen und viele Jahre im Ausland leben mussten. Im Vergleich mit denen blieb ich relativ ungeschoren, wie Sie es ausgedrückt haben. Aber für einen Schriftsteller, der versucht, in einem Umfeld der Unterdrückung und Zensur, wie es in diesem Land existierte, zu arbeiten, ist jeder Augenblick eine intellektuelle und künstlerische Pein, ganz gleich, ob er ihn wachend oder schlafend verbringt. Man kann es vergleichen mit der misshandelten Frau, die sich entscheidet, beim gewalttätigen Ehemann zu bleiben, oder glaubt, nicht entkommen zu können, ohne ihr Leben oder das ihrer Kinder zu gefährden. Sie wird sich ducken und flehen, sich jedes Wort und jede Handlung überlegen, denn sie weiß – weil sie ihren Peiniger ganz genau kennt – um die Wirkung von allem, was sie tut und sagt. Sie kann also um der beabsichtigten Wirkung willen etwas sagen oder tun, oder ohne etwas bewirken zu wollen. Sie kennt die Reaktion ihres Angreifers besser (und früher) als er.«
Sie ist jetzt blasser, schärfer. Ihre Worte kommen im Stakkatorhythmus, halb abgelesen, halb improvisiert nach den Notizen, die sie vor sich hat. Ich schaue auf ihre langen Fesseln, knorrige Stöcke, die aus den Aufschlägen ihrer Leinenhosen ragen. Sie blättert die Seite in ihrem Notizheft um und fährt fort.
»Und dieses Wissen ist zwangsläufig verbunden mit Fehltritten und schlimmen blauen Flecken, sogar gebrochenen Gliedern. Manche können sich nicht so schnell anpassen oder weigern sich, es zu tun, und wenn die Prügel zu heftig werden« – sie hält kurz inne, korrigiert etwas mit ihrem Stift, fährt dann fort –, »wenn ihr Leben (oder im Fall dieser Schriftsteller, das Leben ihres Werks ) ernsthaft gefährdet ist, müssen sie fliehen, Zuflucht suchen, sich verstecken, eine erfundene Identität annehmen, mit falschen Papieren reisen. Ich habe mich angepasst. Mit der Zeit lernte ich meinen Peiniger auf so intime Weise kennen wie meinen Mann – vielleicht noch besser. Ich entschied, mich anzupassen, um meine Kinder und mich am Leben zu erhalten. Das war zumindest die rationale Erklärung, auf der ich ganz ausdrücklich meine Karriere als Schriftstellerin in diesem Land in jenem historischen Moment aufgebaut habe.«
»Kurz bevor die alte Regierung gestürzt wurde, haben Sie Black Tongue, einen Essay über Zensur, veröffentlicht.«
»Ich glaube, ich bin zu müde, um heute weiterzumachen. Werden Sie morgen um die gleiche Zeit wiederkommen?« Sie schaut von ihrem Notizheft hoch, mit abwesendem Blick.
»Ja, wenn Sie es wünschen.«
»Ich wünsche es nicht. Doch ich befürchte, dass ich Sie, wo das nun einmal in Gang gekommen ist, nicht aufhalten kann.«
Marie taucht aus einem anderen Zimmer auf. Sie hat gelauscht und bringt mich zur Haustür. Sie öffnet das Tor am Ende der Auffahrt, wartet, bis ich das Auto rückwärts auf die Straße gefahren habe, und schließt das Tor wieder.
Wieder bei Greg angekommen, wartet eine E-Mail auf mich:
Sehr geehrter Dr. Leroux,
Bezug nehmend auf Ihre Mitteilung, verstehe ich durchaus, dass meine Mutter unklugerweise eingewilligt hat, ihre offizielle Biografie von Ihnen schreiben zu lassen. Ich weiß nicht, ob das die Idee meiner Mutter, die Ihre oder die ihres Verlegers war, doch das ist ohnehin unerheblich.
Meine Sorge gilt vielmehr der Frage, warum ausgerechnet Sie vertraglich verpflichtet wurden, dieses schlecht durchdachte Vorhaben auszuführen. Vielleicht
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