Absolution - Roman
und schon ihre kalte Suppe aßen. Es hatte ein »Versehen« bei der Sitzordnung gegeben, sodass meine Eltern und ich nicht am langen Haupttisch bei der Hochzeitsgesellschaft und den Eltern meines Schwagers und den sechs Geschwistern saßen, sondern an einem gesonderten Tisch an der Seite, mit meiner Tante und meinem Onkel und den Cousins, einem Pulk schlanker, blasser Körper, an all dem Rindfleisch fast erstickend. Wir waren nicht auf irgendeinem der Hochzeitsfotos, außer denen, die mein Onkel aufgenommen hatte, auf denen meine Schwester und ihr Mann unscharf im Hintergrund zu sehen sind, wie sie ihr braaivleis kauten.
In den Monaten nach der Hochzeit, als sie auf die Farm seiner Großeltern zogen, in das lang gestreckte weiße Haus außerhalb von Stellenbosch, lernte Nora die Gepflogenheiten ihres neuen Stammes kennen, die Spracheigenheiten mit den vielen süßlichen Verkleinerungsformen, das Töpfchen, das Schwesterchen, das kleine Fräulein . Unter vier Augen fragte unsere Mutter meine Schwester, ob die Familie ihres frischgebackenen Ehemanns sie anständig behandelte. Zunächst gab meine Schwester keine Antwort, dann sagte sie allzu munter: Ja, Mutter, sie behandeln mich anständig .
Als wir sie besuchten, stieß ich einen antiken Teller, handbemalt mit zarten blauen Blumen, vom Tisch, sodass er auf dem Dungboden zerbrach, der mit Ochsenblut poliert und mit Pfirsichkernen gespickt war, und stellte mir vielleicht vor, wie die Schwiegermutter meiner Schwester reagieren würde.
Jahre vergingen. Als ich aus Europa zurückkam, hatte mein Schwager irgendeinen wichtigen Posten in der National Party angenommen. Meine eigenen politischen Anschauungen waren – wie man das dieser Tage so oft hört – »radikalisiert« worden, hauptsächlich durch meine Zeit in England und die Menschen, die ich dort kennengelernt hatte, die Bücher, die ich plötzlich lesen durfte, ohne die Angst, entdeckt oder bestraft zu werden. Nach meiner Heimkehr lernte ich deinen Vater kennen. Wir fanden einander durch gleichgesinnte Freunde, die ein Treffen arrangierten, und da wir uns recht gut verstanden, beschlossen wir zu heiraten. Ich bekam deinen Bruder Mark, und während dein Vater vorsichtiger wurde, mehr darauf bedacht, seinen neu errungenen Platz an der Universität nicht zu gefährden, wurde ich radikaler, schrieb und veröffentlichte und besuchte Versammlungen, die von der Frau eines Professors nicht besucht werden sollten. Es reichte aus, damit mich Leute auf beiden Seiten bemerkten, und auf einer abendlichen Versammlung rutschte mir so heraus, dass meine Schwester und ihr Mann einige Nächte in Kapstadt verbringen würden. Einer meiner Freunde fragte ganz beiläufig, ob sie bei mir wohnen würden. Mach keine Witze, sagte ich. Der Mann meiner Schwester würde meine Gastfreundschaft nie annehmen. Sie wohnen in einer teuren Pension. Ob ich den Namen wüsste? Natürlich wusste ich ihn – und ließ ihn mir entschlüpfen.
Ich wusste nicht, dass es ein Geheimnis sein sollte oder dass ihre Vorkehrungen nur für meine Ohren bestimmt waren, dass meine Schwester mir eine Hand der Freundschaft, ja, der Versöhnung zu bieten versuchte durch das Vertrauen, das sie mir erwies.
Du hast recht, wenn du protestierst.
Ohne Zweifel wusste ich Bescheid. Ich wusste, wie brisant die Information war, über die ich verfügte. Ich entschied mich, das zu vergessen. Den Rest meines Lebens habe ich darüber nachgedacht, warum.
Ich stelle mir den Moment des Entsetzens vor, als der Eindringling in ihrem Pensionszimmer vor ihnen stand. Nora und Stephan waren zusammen im Bett, die Bettwäsche glänzend von Haaröl und nass von seinem Schweiß, Socken auf dem Fußboden, die in dem heißen Zimmer einen üblen Geruch verbreiteten. Durch das Aufreißen der Tür aufgeweckt, fuhr sie im Bett hoch, schweißfeucht, und sah die Umrisse der Gestalt im Licht, das vom Korridor hereindrang, und muss sich gewundert haben: Wo sind die Wachleute? Es muss unmöglich erschienen sein, dass sie um ihr Leben feilschen mussten. Logischerweise erwartete Nora wohl, dass ihr Mann eingriff, um sie zu retten, doch sie musste gewusst haben, dass es nie viel Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er etwas tun würde, was ihn selbst in Gefahr brachte, dass er die Interessen irgendeiner anderen Person über den Selbsterhaltungstrieb stellen würde.
Ich habe die Aussage gelesen. Der Mörder meiner Schwester berichtete, dass sie drohte, sie würde schreien, die Wachleute rufen, die gesamte
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